Zur Theorie der Erziehung
Aus heutiger Sicht
Anmerkungen zum Text
„Zur Theorie der Erziehung“
Der Text „Zur Theorie der Erziehung“ (1978) blieb in
der DDR unveröffentlicht, und ich habe lange überlegt, ob ich ihn nun
publiziere. Die Entscheidung, ihn jetzt zu veröffentlichen, wurde
wesentlich durch die aktuelle öffentliche Diskussion über die Hauptschule
gefördert, die von der Berliner Rütli‑ Schule ausgelöst wurde.
Insbesondere finde ich die Tatsache interessant, dass die Probleme der
Hauptschule in engem Zusammenhang mit den Problemen der Integration von
Ausländern gestellt werden. Eine Veröffentlichung dieses Textes heute
erfordert jedoch eine kurze Darstellung meiner heutigen Sicht.
Dieser Text verfolgt das Ziel, einen Einstieg in die
theoretische Methode in der Pädagogik zu finden. Die dazu zu entwickelnden
Begriffe müssen also theoretische Begriffe sein. Sie werden durch
Idealisierung gebildet. Die in ihnen abgebildeten Merkmale werden mit
einem in der Realität nicht erreichbaren idealen Grenzwert konstruiert.
Eine theoretische Pädagogik braucht also einen Begriff der „idealen
Erziehung“, also eine Erziehung, deren „Wirkungsgrad“ ebenfalls 100%
beträgt. Dieser ideale Erziehungsprozess ist dann „optimal“ gestaltet.
Reale Erziehungsprozesse sind durch ein messbares Ergebnis bestimmt, das
mehr oder weniger weit vom Idealwert entfernt ist.
Erziehung (i.w.S) ist das Ergebnis der pädagogischen Tätigkeit einer
Gesellschaft. Diese ist letztlich darauf gerichtet, ihren Nachwuchs in
ihre Gesellschaft zu integrieren. Das Merkmal, das im Begriff der idealen
Erziehung idealisiert wird, ist also die ideale Integration der
Heranwachsenden in die Gesellschaft. Dies ist per definitionem ein
zweiseitiger Akt: Die Gesellschaft muss ihren Nachwuchs haben und der
Nachwuchs muss Teil der Gesellschaft (der Erwachsenen) werden wollen.
Von einer pädagogischen Theorie muss weiter die Frage beantwortet werden,
welche funktionellen Komponenten die pädagogische Tätigkeit kennzeichnen,
wie diese zusammenwirken und welchen Einfluss die einzelnen Komponenten
auf das zu erwartende Ergebnis der Tätigkeit ausüben.
Eine dieser Komponenten ist die Gesellschaft als Subjekt der pädagogischen
Tätigkeit. Sie bestimmt Ziele, Zwecke und stellt die Mittel der
pädagogischen Tätigkeit bereit. Die theoretische Methode erfordert deshalb
auch das Konstrukt einer idealen Gesellschaft, das ist eine
Gesellschaft freier, gleicher und solidarisch verbundener Bürger. Dem
damaligen Zeitgeist entsprechend sah ich eine solche ideale Gesellschaft
in der kommunistischen Gesellschaft der Zukunft und die DDR auf dem Weg
dahin.
Die Theorie der Erziehung ist unabhängig davon, wie
man den theoretischen Begriff der idealen Gesellschaft bezeichnet und in
welcher Position sich die jeweils reale erziehende Gesellschaft zu diesem
Ideal befindet. Entscheiden ist das Maß, in dem diese die idealisierten
Merkmale tatsächlich aufweist.
An der Berliner Rütli- Schule ist das festzustellende Ergebnis der
pädagogischen Tätigkeit offensichtlich relativ weit vom Idealwert
entfernt. Das Problem ist nun, die Ursachen für die nicht befriedigenden
Ergebnisse zu finden. Für Politiker ist die Sache klar, es ist die
verfehlte Politik der jeweils anderen Partei. Selbst wenn einer Recht
hätte, wäre noch keine Lösung in Sicht.
Als von der Politik zu verantwortende Ursachen werden beispielsweise
angeboten:
·
Das dreigliedrige deutsche Schulsystem erfordert
Hauptschulen, die pädagogisch ungeeignet sind.
·
Es wird zu wenig Geld bereitgestellt.
·
Es sind zu viele Kinder mit „nicht deutscher Herkunft“ an der
Schule und die Integrationswilligkeit der Kinder und ihrer Eltern ist
nicht hinreichend gegeben.
·
Die hohe Arbeitslosigkeit bedingt einen niedrigen sozialen Status.
·
Nach Abschluss der Schule fehlen berufliche Chancen.
·
Usw.
Nur eine mögliche Ursache wird zumindest öffentlich
nicht diskutiert: Mängel oder Fehler in der Gestaltung des realen
pädagogischen Prozesses durch die Pädagogen der Rütli- Schule, wodurch
diese auch immer bedingt sein mögen.
Als ehemaliger Lehrer und Schuldirektor und als aktiver Großvater zweier
schulpflichtiger Enkelinnen verfolge ich die Entwicklung des Schulwesens
nach wie vor mit großem Interesse. Besonders bewegt hat mich die
öffentliche Debatte um die Vorgänge an der Rütli-Oberschule Berlin. Ich
musste in verstärktem Maß an meine aktive Zeit zurück denken, in der ich
vor ähnlichen Problemen stand wie meine heutigen Kollegen der Rütli-
Oberschule.
Im Jahr 1976 wurde ich zum Direktor der 6. Oberschule Berlin- Mitte
berufen, eine Schule über die in der in Mund- zu Mund Propaganda schlimme
Nachrichten verbreitet wurden:
·
Sogar während einer Hospitation durch den Schulinspektor
habe der Lehrer nur mit einigen willigen Schülern gearbeitet, die er um
den Lehrertisch versammelt hatte. Die anderen rauchten, spielten Karten
oder vergnügten sich in anderer Weise.
·
Schulmöbel würden ständig zerstört, es gab schließlich weniger
Stühle als Schüler an der Schule.
·
Für das Fach Russisch seien nahezu alle Lehrmittel durch die
Fenster auf dem Schulhof verschwunden.
·
Das fiele aber nicht weiter auf, da ohnehin sehr viele Schüler den
Unterricht „schwänzten“.
·
Dem völlig unzureichenden Zustand der Toiletten werde dadurch
begegnet, dass das Geschäft direkt im Klasseraum verrichtet werde. So sei
unter dem obligatorischen Honeckerbild auch schon mal eine „Tretmine“
gefunden worden.
·
Usw. usf.
Öffentliche Berichterstattung über solch Unerhörtes
in den Medien war in der DDR nicht üblich, man schrieb Eingaben an den
Kreis, den Bezirk, das Ministerium oder das ZK. Eine der Reaktionen auf
solche Eingaben führte schließlich auch dazu, dass ich die Leitung dieser
Schule übernehmen und sie in Ordnung bringen sollte.
Da ich zu diesem Zeitpunkt wesentliche Elemente einer pädagogischen
Theorie bereits ausgearbeitet hatte, sah ich diese Aufgabe als
Möglichkeit, meine theoretischen Vorstellungen in der Praxis zu
überprüfen. Das gelang.
Es gelang ebenso, wie es heute an der Berliner Werner- Stephan- Oberschule
und an anderen Hauptschulen in Berlin und anderswo gelingt. Was besagt
das? Offensichtlich doch eines: Desolate Zustände an Schulen sind nicht
durch bestimmte politische Systeme, bestimmte soziale Verhältnisse oder
bestimmte Schulsysteme determiniert. Sie kommen überall vor.
Zum Beleg sei nur darauf verwiesen, dass die
Ergebnisse der deutschen Teilnehmer an der PISA- Studie oder
internationalen Wissensolympiaden für Schüler belegen, dass die Leistungen
der Schüler auch der anderen Schultypen Anlass zu Sorge geben sollten.
Viele Mängel können überwunden werden, auch wenn man nicht zugleich auch
die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse ändern kann, welche
die Rahmenbedingungen für die pädagogische Tätigkeit an der Schule setzen.
Um nicht missverstanden zu werden: Ich bin nicht Anhänger eines
gegliederten Schulsystems, sondern verfechte das Konzept der
Einheitsschule. Ich bin auch nicht der Meinung, dass das kapitalistische
Wirtschaftssystem das Beste aller möglichen Systeme ist. Ich bin weiter
auch nicht der Meinung, dass die in der Bundesrepublik praktizierte Form
der Demokratie die bestmögliche ist. Und schließlich bin ich nicht der
Meinung, dass die politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse
eines Landes ohne Bedeutung für die Integration seiner Heranwachsenden
ist. Die oben genannten den Politikern anzulastenden Ursachen für
ungenügende Ergebnisse, die nicht nur in Hauptschulen festzustellen sind,
sind bedeutsame Komponenten der pädagogischen Tätigkeit der Gesellschaft,
deren Akteure nicht nur Lehrer und Eltern sind, sondern u.a. auch die
Politiker, ob sie das wollen oder nicht.
Die Frage, um deren Beantwortung es mir geht ist die,
wie es möglich ist, den pädagogischen Prozess in den Schulen so zu
gestalten, dass negative Wirkungen außerschulischer Akteure in einem
solchen Maße ausgeglichen Werden, dass die heranwachsende Generation auch
unter gegebenen ungünstigen Bedingungen erfolgreich zum Leben in ihrer
Gesellschaft befähigt wird.
Dazu hatte ich die pädagogische Theorie damals nicht konzipiert. Die
empirische Basis, auf die sie sich bezieht, war die Schule in der DDR. Das
macht es für Leser, die diese Bedingungen nicht kennen, etwas schwer. Wenn
dieses Gedankensystem – wie ich meine - aber tatsächlich eine Theorie des
pädagogischen Prozesses schlechthin ist, muss sie auch unter den
Bedingungen anderer gesellschaftlicher Verhältnisse zutreffen. Das ist
auch der Grund, der mich letztlich veranlasst hat, diesen Text jetzt
allgemein zugänglich zu machen.
Als ich das Manuskript im Wesentlichen abgeschlossen hatte, wurde mir
klar, dass eine pädagogische Theorie eine Theorie des Menschen zur
Voraussetzung hat. Mit der Lösung dieser Aufgabe habe ich mich seither
befasst. Die Ergebnisse habe ich in meinem Buch „Theoretische
Anthropologie“ dargelegt. Dabei wurden auch notwendige Erweiterungen der
tätigkeitstheoretischen Grundlagen der pädagogischen Theorie vorgenommen.
Insbesondere wurde das Leont´ev´sche Konzept von Tätigkeit und Handlung
präzisiert. Leont´ev weist zwar einerseits auf die psychische
Eigenständigkeit von Handlung und Tätigkeit hin, behandelt aber
andererseits die Handlung als Teil der Tätigkeit. Handlung wird nun
konsequent als eigenständige Aktionsform entwickelt und in Beziehung zur
Tätigkeit untersucht. Damit wird auch das Leont´ev´sche Konzept der
Trennung von Bedürfnis und Motiv präzisiert.
Daraus ist auch abzuleiten, welche inhaltlichen Präzisierungen die darauf
aufbauende pädagogische Theorie bei ihrer weiteren Ausarbeitung erfahren
muss.
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