Theorie und Empirie
Einleitung
Theorien entstehen nicht, indem man einfach
still vor sich hin denkt. Sie entstehen nur durch planvolles, methodisches
Vorgehen. Jeder Fortschritt der Gedanken muss methodisch begründet und
nachvollziehbar sein.
Methoden müssen in Bezug auf den Gegenstand
ausgearbeitet werden, den sie erforschen sollen. Jeder Gegenstand erfordert eine
seiner Spezifik angemessene Methode. Deshalb kann die Methode nicht losgelöst
und für sich dargestellt werden, sondern ist immanenter Bestandteil der
Erforschung des Gegenstandes. Jeder Fortschritt in der Erkenntnis des
Gegenstandes erfordert und ermöglicht einen Fortschritt in der Entwicklung der
Methoden.
Sie müssen weiter dem Erkenntnisziel
entsprechen, das mit der jeweiligen Untersuchung erreicht werden soll.
Theoretische Untersuchungen erfordern theoretische Methoden.
Deshalb können methodische Erörterungen
hier nur soweit erfolgen, als sie für den Gegenstand gelten, soweit er bisher
im Sozialparadigma entwickelt wurde und soweit sie für das Ziel bedeutsam sind:
den Aufbau einer Theorie des Menschen. Ansonsten werden die Ausführungen zur
Methode im Zusammenhang mit der Entwicklung der Theorie dargelegt.
Empirie und Theorie
Die Klarheit über die zu lösende Aufgabe,
die hinreichend genaue Kenntnis des angestrebten Ziels ist eine notwendige
Voraussetzung Erfolg versprechender Arbeit. Für die in dieser Untersuchung zu
lösende Aufgabe muss also zunächst hinreichend genau klar sein, worin das
Wesen einer Theorie besteht, für deren Ausarbeitung ein Ansatz entwickelt
werden soll. Das ist umso notwendiger, als der Ausdruck „Theorie“ („theoretisch“)
wie jeder andere verbreitete wissenschaftliche Ausdruck seine Geschichte hat und
von verschiedenen Autoren in verschiedener Bedeutung benutzt wird. Um diese „individuellen“
Unterschiede geht es hier nicht. Sie sind auch relativ leicht zu meistern, indem
man sich einer Verwendungsweise anschließt oder seine eigene individuelle
Verwendungsweise definiert. Hier geht es um Unterschiede, die sich aus den
unterschiedlichen Gegenstandsbereichen ergeben, die durch diesen Ausdruck
bezeichnet werden. Diese werden durch das Bezugssystem gekennzeichnet, in das
der jeweilige Theorie - Begriff eingeordnet ist. Am verbreitetsten sind die
folgenden:
·
Theorie
- Praxis
·
Theorie
- Methode
·
Theorie
- Empirie
In den genannten Beziehungen widerspiegeln
die mit dem Wort „Theorie“ ausgedrückten Begriffe ganz unterschiedliche,
einander sowohl überschneidende als ausschließende Gegenstandsbereiche. So ist
auch Empirie (empirische Erkenntnis) in bezug auf die Kategorie „Methode“
Theorie. In Bezug auf die Kategorie „Praxis“ umfasst die Theorie aber auch
Methoden.
Ganz allgemein sind Theorien meist
systematisch geordnete Gedanken über einen Bereich der Realität. Verschiedene
Typen von Theorien unterscheiden sich hinsichtlich der Methoden, mit denen ihre
Begriffe gebildet werden
In vielen der neueren wissenschaftlichen
Arbeiten wird der Begriff der Theorie i.e.S. als hypothetisch-deduktive Theorie
betrachtet. In diesem Sinne ist die
hypothetisch-deduktive Theorie von der empirischen Theorie, der empirischen Form
wissenschaftlicher Erkenntnis unterschieden.
In diesem Sinne möchte ich mein Anliegen
verstanden wissen: Es geht um die Schaffung eines Ansatzes für eine
hypothetisch-deduktive Theorie des Menschen.
Ein
wesentliches Merkmal von Theorien dieser Art ist die Spezifik ihres Objekts. Das
Objekt einer Theorie und tatsächlich real existierende Dinge sind nicht
dasselbe. Objekte der Theorie sind mehr oder weniger adäquate Modelle, Abbilder
der Wirklichkeit, sie sind deren logische Rekonstruktionen.
Beispiele dafür lassen sich in den
Naturwissenschaften finden. Die Physik z. B. untersucht Objekte, wie den ‚idealen
Transformator’ , ‚absolut schwarzer Körper’ . die ‚ideale Flüssigkeit’.
Diesen Begriffen entspricht kein wirklich existierendes Ding, sie sind
Idealisierungen, logische Konstruktionen. In der Terminologie der Logik bilden
diese Begriffe eine leere Klasse
ab. Trotzdem haben sie sich als unentbehrlich bewährt, ohne sie gäbe es keine
theoretische Physik.
Theoretische Begriffe sind die Begriffe
möglicher, d. h. denkbarer Objekte. Sie müssen unterschieden werden von
Begriffen empirischer Objekte, welche die Begriffe real existierender Objekte
sind. Theoretische Begriffe Wissenschaft vom Menschen müssen demnach
entsprechend wie die als Beispiel angeführten Begriffe der Physik gebildet
werden, z. B.
der Begriff des „idealen Mitglieds“ oder der „idealen Gesellschaft“.
Theoretische
Begriffe werden durch Idealisierung gebildet. Dieses Verfahren
beruht darauf, dass von messbaren Parametern eines empirisch gegebenen
Individuenbereich ausgehend ein Grenzwert gebildet wird, der in der Realität
nicht erreicht wird. So ist z. B. der „ideale Transformator“ ein
Transformator mit dem Wirkungsgrad 1, der in der Realität nie erreicht wird.
Ähnlich werden alle theoretischen Begriffe der Physik gebildet. Dadurch wird
ein idealisiertes Objekt, ein theoretisches Modell geschaffen, das die zur
Idealisierung benutzte Eigenschaft logisch repräsentiert. Die Funktion des so
gewonnenen theoretischen Modells besteht darin, den wirklichen
Gegenstand in der theoretischen Analyse gewissermaßen zu vertreten.
Aus diesem Verfahren folgt, dass die bei der
Analyse des theoretischen Modells gewonnenen Aussagen zunächst Aussagen über
das Modell sind und noch keine Aussagen über die Prozesse, die in der empirisch
gegebenen Realität ablaufen. Die Aussagen über wirklich ablaufende Prozesse
können erst in einer zweiten Phase der Analyse aus den Aussagen über das
Modell abgeleitet werden. Es werden also Aussagen zweierlei Art
zu formulieren sein: Aussagen über das theoretische Modell und – auf
deren Grundlage – Aussagen über die modellierte Wirklichkeit. Bei einer
theoretischen Analyse müssen also zwei unterschiedliche sprachliche Ebenen
unterschieden werden, die Ebene der theoretischen Konstruktion und die Ebene der
empirischen konstatierbaren Gegebenheiten.
In der Sprache der theoretischen Konstruktion werden Theorien aufgebaut, deren
Sätze sich auf mögliche Objekte beziehen. Um anwendbar zu sein, muss eine
Theorie, die in der Sprache der theoretischen Konstruktion formuliert ist, durch
Regeln ergänzt werden, welche die Möglichkeit geben, von den Sätzen der
Sprache der theoretischen Konstruktion zu Sätzen der Sprache der empirischen
Abhängigkeiten, von der Kenntnis theoretischer Modelle zur Kenntnis empirischer
Objekte überzugehen.
Damit ist zugleich eine weitere Aufgabe
gekennzeichnet, die im Verlauf dieser Untersuchung gelöst werden muss.
Die Aussagen, die bei der theoretischen
Analyse über den Menschen getroffen werden, sind Aussagen über dessen
theoretisches Modell, sie sind in Sätzen der Sprache der theoretischen
Konstruktion formuliert. Die Prädikate, die diesem Objekt zukommen und im
theoretischen Bereich nicht leer sind, können im empirischen Bereich durchaus
leere Prädikate sein, so dass der richtige Übergang von den Aussagen der
Theorie zu Aussagen über die
empirischen Objekte der Schrift ist, der über die Anwendbarkeit der
theoretischen Aussagen zur praktischen Beherrschung der Wirklichkeit
entscheidet. In logisch-erkenntnistheoretischer Hinsicht handelt es sich bei der
Konstruktion eines theoretischen Modells um eine Idealisierung, durch die ein
Begriff geschaffen wird, der dem Umfang nach leer ist.
Obwohl dieses Begriffe dem Umfang nach leer
sind, haben sie sich als ein notwendiges Instrument zur Beherrschung der realen
Objekte erwiesen. Die Wissenschaft hat es bekanntlich nicht immer mit den
Gegenständen der objektiven Realität unmittelbar, so wie diese existieren, zu
tun; diese Gegenstände sind vielmehr Ausgangspunkt der Konstruktion idealer
Gegenstände, und als solche sind sie auch das eigentliche Objekt der
wissenschaftlichen Untersuchung.“ Das Verfahren der Konstruktion idealer
Modelle ist wissenschaftlich legitim, es wird vor allem von den theoretischen
Naturwissenschaften schon seit langem.
Die Ausarbeitung der
logisch-methodologischen Verfahren zur Konstruktion der Theorie des Menschen ist
also als Teil dieser Aufgabe zu verstehen, da der logisch-methodologische
Apparat anderer Wissenschaften zur Anwendung in einer theoretischen Pädagogik
noch nicht aufbereitet worden ist.
Für die Theorie vom Menschen besteht jedoch
das eigentliche Problem darin, dass die theoretisch notwendigen empirischen
Parameter kaum festgestellt worden sind. Deshalb müssen die theoretischen
Begriffe gebildet werden, indem angenommen wird, ihre empirischen Parameter
seien gemessen worden, der Grenzübergang wird dann hypothetisch vollzogen. Die
so im theoretischen Begriff widergespiegelten Merkmale (Parameter) kommen den
realen Erscheinungen stets nur in einem gewissen Maße zu, das in der Regel
jedoch empirisch noch nicht oder nur ungenau bestimmt worden ist.
Es wird also eine in zweifacher Hinsicht
hypothetisch-deduktive Theorie entstehen. Sie kann durch empirische
Untersuchungen, in denen die hypothetisch angenommenen Parameter gemessen
werden, bestätigt oder widerlegt werden.
Begriff und Wort
Die in einer deduktiven Theorie abgebildeten
Objekte sind nicht mit den empirisch gegebenen Objekten identisch, sondern sind
als ideale Objekte theoretische Modelle der Realität. Auf diese idealen Objekte
bezieht sich die Sprache der Theorie. Die Sprache der empirischen Pädagogik
hingegen bezieht sich auf reale, empirisch gegebene Objekte. Deshalb ist für
die sprachliche Gestaltung der Theorie von Bedeutung, wie die Ausdrücke der
Sprache der Theorie in die Sprache der empirischen Wissenschaft „übersetzt“
werden können, in der die Erfahrungen und die Ergebnisse der empirischen
Forschung ausgedrückt sind. Dafür bieten sich zwei Verfahren an:
Die erste Möglichkeit besteht darin, dass für
die theoretischen Modelle Wörter gesucht werden, die durch eine entsprechende
Vorschrift den Ausdrücken der Sprache der empirischen Wissenschaft zugeordnet
werden. Es entstehen zwei ineinander übersetzbare Sprachen, wie beispielsweise
die Sprache der Arithmetik und der Geometrie.
Die zweite Möglichkeit besteht darin, auch
in der Theorie die Ausdrücke der empirischen Wissenschaft zu benutzen und ihnen
so einen doppelten Sinn zu geben, einen empirischen und einen theoretischen. So
verfährt beispielsweise die Physik. Der Zusammenhang zwischen der Sprache der
theoretischen und der empirischen Objekte der Physik wird oft durch spezifische
Koeffizienten (z.B. Ausdehnungskoeffizienten)
hergestellt. Die Koeffizienten geben an, in welchem Maße das
theoretische Gesetz auf den vorliegenden realen Fall zutrifft.
Dazu ein Beispiel:
Die Geschwindigkeit eines Körpers im freien
Fall ist der Zeit proportional. Der Proportionalitätsfaktor ist die empirisch
zu bestimmende Fallbeschleunigung, die für jeden Himmelskörper anders ist. So
erhält das empirisch (im Vakuum) wirkende Gesetz die Form
v = g . t. In idealer Form, d.h. für g = 1, hätte das Gesetz die Form v =
t . Durch die Wahl der Proportionalitätsbeziehung zwischen v und t im
theoretischen Gesetz wird sowohl seine empirische wie seine theoretische
Interpretation möglich
Dieses Verfahren macht auch die so genannten
„Fallunterscheidungen“ möglich. Für unser Beispiel sind drei
unterschiedliche Fälle bedeutsam: g ist
größer, gleich oder kleiner als die Erdbeschleunigung.
Dieses zweiten Weg wollen wir in unserer
Arbeit gehen. Der Einfachheit halber werden wir – nach ihrer Definition –
die entsprechenden Ausdrücke stets in ihrem theoretischen – idealen - Sinn
benutzen. Sind die realen Erscheinungen gemeint, wird das durch Ausdrücke wie
„real“, „empirisch“ u. a. gekennzeichnet.
Darüber hinaus wird es notwendig sein, neue
Ausdrücke einzuführen, für deren Verwendung entsprechendes gilt.
Die Zuordnung von Gegenständen zu
sprachlichen Ausdrücken ist nicht in erster Linie ein Problem
wissenschaftlicher Forschung, sondern ein praktisches Problem; ein Problem
sowohl der Kommunikation als auch der praktischen Beherrschung der Gegenstände,
die mit Ausdrücken belegt werden sollen.
Handelt es sich – wie in unserem Falle –
um Ausdrücke, welche die Grundkategorien einer Wissenschaft bezeichnen, wird
jede Art der Zuordnung zu einer Stellungnahme in der Diskussion um den
Gegenstandsbereich der jeweiligen Wissenschaft.
Es ist jedoch genau zu unterscheiden
zwischen der Erkenntnis der Gegenständer, ihrer Struktur und ihren Gesetzen und
den sprachlichen Ausdrücken, in denen die formuliert werden. Es wäre möglich
und relativ einfach, für die theoretischen Gegenstände (die pädagogischen Tätigkeiten)
neue Ausdrücke zu finden und die Herstellung der Beziehungen dieser Ausdrücke
zu den in der gesellschaftlichen Sprache gewachsenen zu vermeiden, ohne dass
sich am Wesen der Sache, die hier zu vertreten ist, etwas ändert. Die Belegung
der Gegenstände mit Ausdrücken ist ohnehin letztlich eine Angelegenheit der
Konvention und bedarf der Übereinkunft.
Wenn hier trotzdem die historisch gewordene
Sprache der empirischen Pädagogik benutzt wird, dann vor allem deshalb, weil
die empirisch gewonnene Erkenntnis des Gegenstandes der Pädagogik jenen Grad an
Tiefe und Allgemeingültigkeit erreicht hat, die den direkten Bezug
zu deren theoretischer Rekonstruktion ermöglicht.
Es muss nur zweierlei beachtet werden.
Erstens werden in dieser Arbeit die Ausdrücke stets in ihrer theoretischen
Bedeutung benutzt. Ist die empirische Erkenntnis gemeint, wird das stets ausdrücklich
vermerkt werden. Zweitens muss beachtet werden, dass die Verwendung der Ausdrücke
in ihrer empirischen Bedeutung nicht einheitlich ist, gleiche Ausdrücke werden
von verschiedenen Autoren unterschiedlich verwendet.
Gerade weil Fragen der Bezeichnung in
erheblichem Maße zu Problemen führen können, sei noch einmal betont:
Gegenstand der Arbeit ist nicht die her angewandte Verwendung der Bezeichnung für
Gegenstände und Zusammenhänge der pädagogischen Wissenschaft, sondern
Gegenstand sind die Gesetze selbst, und diese sind unabhängig von der Wahl der
verwendeten Ausdrücke.
Natürlich wird die Zuordnung von Worten der
natürlichen oder wissenschaftlichen Sprachen auch von den Paradigmen bestimmt,
innerhalb derer man sich bewegt. Meine Überlegungen gehen davon aus, dass der
Mensch auf natürlichem Wege im Verlauf der Evolution aus heute ausgestorbenen
Menschenaffen hervorgegangen ist. Die Allmählichkeit der Evolution bringt es mit
sich, dass zumindest alle ursprünglichen Bestimmungen des Menschen aus den
Tieren eigenen Eigenschaften hervorgegangen sind und im Verlauf der
Menschwerdung ihre spezifisch menschliche Ausprägung erfahren haben. Dazu
gehören Bestimmungen wie Bedürfnisse, Motive oder Zwecke. Wenn sowohl tierische
wie menschliche Eigenschaften mit den gleichen Worten bezeichnet werden, dann
ist damit nicht gemeint, dass es sich um Gleiches handelt. Es gibt eben
biologische Bedürfnisse, Motive und Zwecke – und dies in verschiedenen
Entwicklungsstadien – und menschliche Bedürfnisse, Motive und Zwecke, und die
ebenfalls in verschiedenen Entwicklungsstadien. Wo es nicht aus dem Kontext
hervorgeht, was gemeint ist, wird dies durch entsprechende Formulierungen
angegeben