Beiträge zur Erkenntnistheorie

Nichts ist in unseren Sinnen, bevor es in unserem Verstand war.

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Paradigmata
Paradigmen vom Menschen
Zuschreibung
Metapher
 

Paradigma und Erklärungsprinzip

Mit der Entstehung der gesellschaftlichen Erkenntnis  vollzogen sich einschneidende Veränderungen der individuellen menschlichen Psyche. Die individuellen psychischen Bilder werden mittels der gesellschaftlichen Erkenntnis konstruiert und erhalten so bereits bei der Konstruktion einen sozialen Inhalt. Die ideellen Bilder der gesellschaftlichen Erkenntnis werden bereits bei der Konstruktion des individuellen psychischen Bildes zu seiner bestimmenden Komponente.

Die gesellschaftliche Erkenntnis bildet so den Rahmen, in dem individuelle Erkenntnis stattfinden kann, sie bildet den Erkenntnisraum der individuellen Erkenntnis.
Das gilt auch für das wissenschaftliche Erkennen, das Forschen. Auch Forschen hat seinen Ursprung stets in der gegebenen gesellschaftlichen Erkenntnis, die sich das erkennende Individuum durch Lernen angeeignet hat. Dieser erlernte gesellschaftliche Erkenntnisraum bildet den Rahmen, in dem individuelle Erkenntnis gewonnen werden kann. Er ist jedem individuellen Erkennen vorausgesetzt.
Beim Lernen kann der individuell angeeignete Bereich des gesellschaftlichen Erkenntnisraums erweitert und der individuelle Erkenntnisrahmen durchbrochen werden, indem individuell neue Erkenntnisse angeeignet werden. Der Rahmen der gegebenen gesellschaftlichen Erkenntnis kann beim Lernen nicht verlassen werden. Die gesellschaftliche Erkenntnis begrenzt die Möglichkeiten des Lernens.

Erst durch Forschen kann der die individuelle Erkenntnis begrenzende Rahmen durchbrochen und der individuelle Erkenntnisraum erweitert werden. Der gesellschaftliche Erkenntnisraum der anderen Mitglieder des „Denkkollektivs“ (Fleck) beispielsweise der wissenschaftlichen Schule kann nur erweitert werden, indem diese die neue individuelle Erkenntnis durch Lernen aneignen und zu ihrem gemeinsamen neuen Erkenntnisraum machen.
Der tatsächliche wissenschaftliche Fortschritt erfordert also das Lernen, durch das neue Ideen erst wirklich vergesellschaftet werden. Dieses Lernen des Wissenschaftlers ist ebenso schöpferisch wie das Forschen selbst und erfordert eben so viel Anstrengung und Mut, gilt es doch, die Grenzen der bislang angeeigneten gesellschaftlichen Erkenntnis zu sprengen um neue zu setzen.

Paradigma und Erklärungsprinzip

Der Erkenntnisraum der wissenschaftlichen Erkenntnis ist unter verschiedenen Aspekten selbst Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis.

In soziologischer Sicht wurde die wissenschaftliche Erkenntnis u.a. von Thomas Kuhn (1922 bis 1996) untersucht. Der gesellschaftliche Erkenntnisraum der Forschung bildet wird von ihm als „Paradigma“ bezeichnet, den Rahmen bildet, in dem sich Forschung vollzieht. „Normale Wissenschaft“ ist dagegen darauf gerichtet, diesen Rahmen weiter auszufüllen ohne ihn zu verlassen. Im Unterschied zum Lernen kann es bei der Forschung auch dazu kommen, dass dieser Rahmen der gesellschaftlichen Erkenntnis durchbrochen und der gesellschaftliche Erkenntnisraum erweitert werden. Darin bestehen „wissenschaftliche Revolutionen“ (Kuhn).
Unter dem Paradigma versteht er das Denkmuster, die Lehrmeinung, welche eine Gruppe von Wissenschaftlern eint. Diese bilden eine wissenschaftliche Schule. Das Paradigma bestimmt

·         was beobachtet und überprüft wird,
·        
die Fragen, die gestellt werden sollen,
·        
welche Antworten als zulässig gelten sollen und
·        
wie Ergebnisse zu interpretieren sind.

Darüber hinaus hat der Terminus „Paradigma“ noch eine subjektive, psychologische Komponente. Ein Paradigma ist „allgemein anerkannt“, d.h. es wird von einer „wissenschaftlichen Schule“ oder in einer historischen Epoche für richtig („wahr“) gehalten und bedarf keiner Verifikation mehr. Es ist eben eine Meinung. (Sapir-Whorf-Hypothese)
Das Paradigma begrenzt so den Bereich, in dem wissenschaftliche Forschung möglich ist. Was nicht ins Paradigma passt, kann von normaler Wissenschaft nicht erforscht werden. Dazu muss der Rahmen eines Paradigmas durch eine wissenschaftliche Revolution gesprengt und erweitert werden.
Vor allem in den westlichen Demokratien haben die Paradigmen der Wissenschaften im öffentlichen gesellschaftlichen und politischen Denken universelle Wirksamkeit erreicht. Sie werden als letzte Begründung für die Gestaltung des gesamtgesellschaftlichen Zusammenlebens allgemein akzeptiert.

Paul Feyerabend (1924–1994) kritisiert diesen Zustand vehement und entwickelt die Auffassung, dass Mythen, Märchen und Religionen ebenfalls als Erkenntnisräume anerkannt werden müssen. In seiner Schrift „Wider den Methodenzwang“ kommt er zusammenfassend zu folgendem Ergebnis:
-„Es gibt also keinen klar formulierbaren Unterschied zwischen Mythen und wissenschaftlichen Theorien. Die Wissenschaft ist eine der vielen Lebensformen, die die Menschen entwickelt haben, und nicht unbedingt die beste. Sie ist laut, frech, teuer und fällt auf Grundsätzlich überlegen ist sie aber nur in den Augen derer, die bereits eine gewisse Position bezogen haben oder die die Wissenschaften akzeptieren, ohne jemals ihre Vor­züge und Schwächen geprüft zu haben. Und da das Annehmen und Ablehnen von Positionen dem einzelnen oder, in einer Demokratie, demokratischen Ausschüssen überlassen werden sollte, so folgt, daß die Trennung von Staat und Kirche durch die Trennung von Staat und Wissenschaft zu ergänzen ist.“ (S. 385)

In methodologischer Sicht wird die Beziehung zwischen Paradigma und normaler Wissenschaft von Judin (1930 bis 1976) untersucht. Er unterscheidet zwischen Gegenstandsbeschreibung und Erklärungsprinzip. Diese Begriffe haben bei Judin funktionelle Bedeutung, sie bilden die Funktion von Begriffen und Kategorien im Erkenntnisprozess ab. Ein und derselbe Begriff kann einmal eine Gegenstandsbeschreibung und in anderem Zusammenhang ein Erklärungsprinzip sein.
Von besonderem Interesse sind für Judin Begriffe, die als universelle Erklärungsprinzipien für eine große Epoche wissenschaftlicher Forschung charakteristisch sind.
„Die Geschichte des philosophisch-theoretischen Wissens erscheint, unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, als Ablösung von Erklärungsprinzipien“ (S. 309)
Die aktuelle Epoche der Wissenschaft wird nach Judin dadurch gekennzeichnet, dass der Tätigkeitsbegriff zum universellen  Erklärungsprinzip wird.
In folgendem Zitat wird die Überschneidung des Kuhn´schen Begriff „Paradigma“ und des Judin´schen Begriff „Erklärungsprinzip“ deutlich:
„Jeglicher Begriff, wie universal er auch sein mag, setzt dem Gegenstand des Denkens ganz bestimmte Grenzen, und innerhalb dieser Grenzen können nur ganz bestimmte und keineswegs alle beliebigen Typen wissenschaftlicher Probleme gelöst werden Daher die Schlußfolgerung, daß die Forschung den eingrenzenden Charakter eines jeglichen erklärenden Prinzips und des Begriffs, der seine Grundlage bildet, erkennen und berücksichtigen muß. Mit anderen Worten, an irgendeinem Punkt muß die Grenze der extensiven Entwicklung des erklärenden Prinzips fixiert werden, hinter der seine weitere konstruktive Anwendung nur durch seine  intensive Entfaltung möglich ist, das heißt nicht dadurch, daß immer neue Erscheinungen und Schichten der Wirklichkeit dem entsprechenden Begriff zugeordnet werden, sondern dadurch, daß die Vorstellungen über die innere Struktur des Begriffs, über seine inhaltlichen gegenständlichen Charakteristika vertieft werden. .“ (S. 327)

Die Begriffe "Paradigma" und "Erklärungsprinzip" bezeichnen also weitgehend denselben Sachzusammenhang, nämlich die Tatsache, dass individuelles Erkennen nur in einem dem →Lernen wie dem →Forschen vorausgesetzten gesellschaftlichen Erkenntnisraum stattfinden kann, der Möglichkeiten und Grenzen individuellen Erkennens bestimmt.
Die Begriffe "Paradigma" und "Erklärungsprinzip" sind folglich extensional identisch. Sie unterscheiden sich jedoch hinsichtlich ihrer Bedeutung. "Erklärungsprinzip" meint mehr den objektiven funktionellen Aspekt dieses Zusammenhangs, "Paradigma" meint dagegen mehr den sozialpsychologischen Aspekt dieses Zusammenhangs, durch den Erkenntnisgemeinschaften gekennzeichnet sind.

Erkenntnistheoretische Paradigmata

Die folgenden Beispiele für erkenntnistheoretische Paradigmata belegen einerseits, dass auch erkenntnistheoretische Darstellungen stets in einem bestimmten Erkenntnisraum erfolgen. Sie geben andererseits bestimmte Positionen zu Themen wieder, die bei allen erkenntnistheoretischen Darstellungen Teil der paradigmatischen Positionen sein müssen, auch wenn das nicht oder nicht expliziert reflektiert wird.

Aus linguistischer Sicht wird der Einfluss der gesellschaftlichen Erkenntnis auf das individuelle Denken in der Sapir-Whorf-Hypothese abgebildet. Sie besagt, dass die Art und Weise, wie ein Mensch denkt, stark durch die semantische Struktur seiner Muttersprache beeinflusst wird.
Die Sapir-Whorf-Hypothese geht darüber hinaus davon aus, dass die semantische Struktur einer Sprache die Möglichkeiten der Begriffsbildung von der Welt entweder determiniert oder limitiert. Sie ist die Annahme, dass die erlernte Muttersprache die Erfahrung, das Denken und Handeln der Menschen determiniert, so dass jede Sprache eine spezifische Weltsicht vermittle und das Weltbild des Sprechers prägt. Auch wenn der so formulierte kausal zwingenden Einflusses der Sprache stark umstritten ist, ist doch der Sachverhalt selbst im Wesentlichen unbestritten.

In erkenntnistheoretischer Sicht wird dieser Sachverhalt als das Verhältnis von Theorie und Empirie bearbeitet. Rationalistische Auffassungen verweisen darauf, dass es Erfahrungswissen ohne ein gegebenes theoretisches Konzept nicht möglich ist und lehnen empiristische Erkenntniskonzepte ab. Descartes „Ich denke, also bin ich“ und Kants a priori gegebenen erfahrungsunabhängigen Begriffe wie Raum und Zeit sind klassische Formen rationalistischer Erkenntnistheorie.

In evolutionstheoretischer Sicht geht es um die Evolution der menschlichen Erkenntnisfähigkeit. Die evolutionären Erkenntnistheorie interpretiert die im Verlauf der biotischen Evolution entstandene anatomische und funktionelle Ausstattung des Nervensystems als den Erkenntnisapparat, der als determinierendes und limitierendes System der Voraussetzungen des Denkens betrachtet wird. Die in diesem Ansatz gewählte biologistische Sicht führt folgerichtig zu einem biologistische Verständnis des Kulturellen. Kultur wird als Leistung der biotischen Ausstattung des menschlichen Individuums verstanden. Das führt dann folgerichtige zu der Auffassung, dass der Mensch biologisch unfähig ist, die von ihm hervorgebrachte Kultur auch zu beherrschen.
„Die Geschwindigkeit, mit der der menschliche Geist sich verändert und mit der der Mensch durch seine Technologie die eigene Umwelt zu etwas völlig anderem macht, als sie eben noch war, ist so groß, daß der Gang der stammesgeschichtlichen Entwicklung im Vergleich zu ihr praktisch stillsteht. Die Menschenseele ist seit dem Entstehen mensch­licher Kultur im wesentlichen die gleiche geblieben; es ist nicht erstaunlich, daß die Kultur sehr häufig unerfüllbare Ansprüche an sie stellt. „(S.419)
„Die Komplikation des technokratischen Systems macht eine gen aue Einsicht in die Einzelheiten seines Wirkungsgefüges grundsätzlich un­möglich. Wir müssen uns daher von vornherein darüber im klaren sein, daß der menschliche Geist hier ein System geschaffen hat, dessen Komplikationen zu überblicken seine eigene Komplexität nicht aus­reicht.“ (S455)

So schreibt Konrad Lorenz, der zu den Begründern der evolutionären Erkenntnistheorie gehört. Diese Denkrichtung hat sich heute von Noam Chomski begründet als „evolutionäre Psychologie“ etabliert. Diese nativistische Auffassung geht davon aus, dass die psychischen Eigenschaften des Menschen evolutionär entstanden und darum genetisch bedingt sind. Das wird auch für die menschliche Sprache angenommen, für die von Pinker ein „Sprachinstinkt“ postuliert wird.

In kulturtheoretischer Sicht entwickelt Merlin Donald dagegen ein Paradigma, das die Kultur als Voraussetzung und bestimmenden Determinante von Bewusstsein und Erkenntnis setzt. Im Prolog zu seinem Buch „Triumph des Bewusstseins“ führt er aus:

„Der Grundgedanke dieses Buches ist, dass die Einzig­artigkeit des menschlichen Geistes nicht auf seiner biologischen Ausstattung beruht, deren Hauptmerkmale auch bei vielen Tieren zu finden sind, sondern auf der Fähig­keit, Kulturen aufzubauen und sich an sie zu assimilieren....
... In einem früheren Buch zur kognitiven Evolution des Menschen habe ich ausgeführt, dass die Entwicklung des menschlichen Geistes nur angemessen zu beschreiben ist, wenn man die kultu­rellen Errungenschaften des Menschen in den Blick nimmt, die eine sich stetig ver­tiefende Symbiose von Kognition und Kultur erkennen lassen.“ (S.11)

Wenn Donald auch keine speziell erkenntnistheoretischen Analysen vornimmt, seine Position zu erkenntnistheoretischen Problemen wird von dieser kulturtheoretischen Prämisse bestimmt und erfüllt so eine paradigmatische Funktion.

Für eine subjekttheoretische Sicht bietet sich zunächst der Konstruktivismus () als theoretische Basis an. Erkenntnisse sind in konstruktivistischer Sicht keine Abbilder einer von diesen Abbildern unabhängigen Realität, sondern freie Konstrukte des denkenden Subjekts. Der Konstruktivismus bestreitet zwar nicht die Existenz einer objektiven, d.h. vom Menschen unabhängigen Realität, er bestreitet aber, dass unsere Wahrnehmung uns ein Bild dieser Realität liefern kann.
Mit dieser These wirft der Konstruktivismus nicht nur die Wahrnehmung als Prozess der Erkenntnisgewinnung über Bord, sondern auch den Abbildcharakter der Erkenntnis schlechthin. In dieser Argumentation macht sich eine spezifische Enge der Sichtweise der konstruktivistischen Erkenntnistheorie bemerkbar. Sie kennt keine andere Verbindung zwischen Subjekt und Realität als die Wahrnehmung. Betrachtet man das Subjekt aber als tätiges Subjekt, dann erweist sich die Tätigkeit eine unmittelbare Verbindung zwischen Subjekt und Realität, auf deren Grundlage Erkenntnis erklärbar wird.

 

 

 

Inhalt:
Paradigma und Erklärungsprinzip
Erkenntnistheoretische Paradigmata

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Weiterführende Links:

Weiterführende Literatur:
Chomsky, Noam (1970): Sprache und Geist, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main
Donald, Merlin (2008): Triumph des Bewusstseins * Die Evolution des menschlichen Geistes, Klett - Cotta Verlagsgemeinschaft, Stuttgart,
Feyerabend, Paul (1986): Wider den Methodenzwang, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main,
Fleck, Ludwik (1980): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Zürich,
J
udin, Erik Grigor´evič (2009): Systemansatz und Tätigkeitsprinzip * Methodologische Probleme der modernen Wissenschaft, Lehmanns Media-LOB, Berlin,
Kuhn, Thomas S. (1973): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main,
Lorenz, Konrad (1988): Die Rückseite des Spiegels - Der Abbau des Menschlichen, Piper & Co.Verlag, München, Zürich,
Pinker, Steven (1996): Der Sprachinstinkt, Kindler Verlag GmbH, München

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© Dr. G. Litsche 2009
Letzte Bearbeitung: 07.10.2012