Subjekte

Menschen können nur als Menschen sein, indem sie einander Subjekte sind.

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Nichts ist in unseren Sinnen, was nicht zuvor in unserem Verstand war.

 

Reflexionen über Konstruktivismus

In unserer umgangssprachlichen Auffassung von Erkenntnis wird der Erkenntnis immer eine zu erkennende Realität zugeordnet, Erkenntnis ist also immer Erkenntnis von Etwas, ist Erkenntnis der Realität. Die Antwort auf die Frage nach der Beziehung der Erkenntnis zur Realität ist ein essentieller Bestandteil jeder Erkenntnistheorie.
Über den Status von Erkenntnis und Realität und die Natur ihrer Beziehung zueinander werden in den vielen erkenntnistheoretischen Schulen die verschiedensten Standpunkte vertreten und mir scheint, kein denkbarer Standpunkt fehlt. Mein Ausgangspunkt ist also der in der Umgangssprache () gegebene naive Standpunkt, dass die Realität außerhalb und unabhängig von unserer Erkenntnis existiert und dass unsere Erkenntnis ein Bild dieser Realität ist. Der im  ersten Teil dieser Aussage formulierte Standpunkt wird auch von den meisten erkenntnistheoretischen Schulen eingenommen, die eigentlichen Unterschiede liegen in der Auffassung darüber, welcher Beziehungen unsere Bilder zu dieser Realität haben. Die Unterschiede gehen bis hin zu der Frage, ob wir uns überhaupt Bilder von dieser Realität machen können. Vor allem die verschiedenen Schulen des Konstruktivismus bestreiten vehement den Abbildcharakter unserer Erkenntnis und vertreten die Auffassung, dass unsere Erkenntnisse freie und subjektive Schöpfungen unseres Erkenntnisapparates sind. Als „Erkenntnisapparat“ werden je nach Schule die Sinnesorgane („radikaler Konstruktivismus“), die Sprache („Erlanger Konstruktivismus“) oder das Gehirn(„evolutionäre Psychologie“) angesehen.
Die Begründung dafür leitet der radikale Konstruktivismus aus der Art und Weise ab, wie die traditionelle Psychologie die Entstehung von psychischen Abbildern erklärt. Diese versteht sich als Naturwissenschaft und interpretiert die empirischen Daten in kausalistischer Manier. Hinter dem Terminus „Abbild“ versteckt sich daher die Auffassung, dass die Gegenstände der Umwelt auf die Sinnesorgane „einwirken“ und dem abbildenden Subjekt Informationen über die Gegenstände liefern, die dann zu dem psychischen Abbild „verarbeitet“ werden. Nichts sei im Verstand, was nicht zuvor in den Sinnen war. Dabei wird immer unterstellt, dass das, was in den Sinnen ist, von außen in die Sinne eingedrungen ist.
Die Ergebnisse der Wahrnehmungsforschung belegen aber seit langem, dass dem nicht so ist, sondern dass die Sinnesorgane die Wahrnehmung aktiv gestalten und dass die Umwelt zumindest nicht die einzige und schon gar nicht die entscheidende Quelle der subjektiven Information der Sinne ist. Hier setzt der Konstruktivismus an (umfassend bei Gerhard Roth) und vertritt die These, dass auch die Wahrnehmungen ein subjektives Konstrukt seien und daher gar kein Abbild der Umwelt sein können. Dieser „radikale“ Konstruktivismus befasst sich nur mit der Relation Objekt – Abbild der dreistelligen Erkenntnisrelation Objekt - Abbild – Zeichen.
Andere Schulen des „sozialen Konstruktivismus“ befassen sich dagegen vorwiegend mit der Relation Abbild – Zeichen. Während der „radikale Konstruktivismus“ annimmt, die Ideen werden aus den Sinnen konstruiert, geht der „soziale Konstruktivismus“ davon aus, dass die psychischen Abbilder aus der gesellschaftlichen Sprache konstruiert werden.
Damit löst der Konstruktivismus die Frage nach dem Status der Realität zwar nicht, aber er eliminiert die Realität aus dem Kategorienkatalog der Erkenntnistheorie und ersetzt sie durch die „Wirklichkeit“, die als Konstrukt des schöpferischen Subjekts definiert wird. Die Realität mag existieren oder nicht, in keinem Falle sind im Konstruktivismus die psychischen Entitäten, die Erkenntnisse, Abbilder einer solchen Realität.
Die Funktion einer so konzipierten Erkenntnis ist nicht die Abbildung der Wirklichkeit, sondern die Befähigung des Subjekts zur Orientierung in der von ihm selbst konstruierten Wirklichkeit, wofür das Bild einer „Realität“ nicht erforderlich ist. Dieser Sachverhalt wird mit der Schloss – Schlüssel – Metapher beschrieben, nach der die Erkenntnis wie ein Schlüssel ist, der nur geeignet sein („passen“) muss, ein Schloss zu öffnen aber keine Kenntnisse über die Beschaffenheit des Schlosses mitteilt oder erfordert, wie jeder Einbrecher beweist.
Der Schlüssel oder der Kurs des Kapitäns– so meint der Konstruktivismus - sei kein Bild des Schlosses oder der Küste. Ist dem wirklich so?

In der Mathematik ist der Abbildbegriff oder die Funktion als Relation zwischen zwei Mengen, der Urbildmenge und der Bildmenge (Funktionentheorie: „unabhängige Variable“ und „abhängige Variable“) definiert. Ebenso sind die Kurslinie und jeweils eine Küstenlinie zwei Punktmengen und zwischen den Elementen dieser Mengen bestehen eindeutige Beziehungen. Jeder Kurs kann als Funktion einer Küstenlinie und umgekehrt dargestellt werden. Welche Menge die unabhängige Variable (oder mengentheoretisch die Urbildmenge) ist, ist eine Frage der Konvention. Der Konstruktivismus folgt unreflektiert der kausalistischen Mainstreampsychologie und bestimmt die Realität (Küstenlinie) als Urbild (Ur-Sache) und die psychischen Entitäten als (davon abhängiges) Abbild. Der Kurs wird der Küstenlinie als deren Abbild zugeordnet.
Der Konstruktivismus zeigt, dass die neurobiologischen Daten diese Interpretation nicht tragen, sondern dass Wahrnehmung und Erkenntnis vom Subjekt autonom konstruiert werden. Wahrnehmungen und Erkenntnisse sind autonome Leistungen des Subjekts. Mit der Erzeugung psychischer Konstrukte hört aber die Leistung des Subjekts nicht auf. Das Subjekt nutzt diese Konstrukte nicht nur zur Steuerung seiner Aktionen in der Realität, sondern auch zur Erzeugung von psychischen Bildern der Realität, indem es den psychischen Entitäten ebenso autonom Elemente der Realität zuordnet. Die psychischen Entitäten sind also die Urbilder (Ur-Sachen), denen das Subjekt die Entitäten der außer ihm existierenden Realität zuordnet. Mengentheoretisch gesprochen, sind auch die Elemente der Realität Elemente einer Bildmenge, die den psychischen Abbildern zugeordnet werden./1/
Diese Einsicht bleibt dem Konstruktivismus wie der Mainstreampsychologie verwehrt, weil sie keinen Begriff (kein gedankliches Konstrukt) haben, mit dem sie den Prozess abbilden können, durch den die Zuordnung der Realität zu psychischen Entitäten realisiert wird. Innerhalb der konstruktiven Prozesse von Wahrnehmen und Erkennen hat die Realität keinen Platz, denn sie werden ausschließlich im Subjekt, genauer in seiner Psyche, angeordnet.
Die Erkenntnistheorie des Konstruktivismus folgt aus einem auf dieses Psychische verkürzten Subjektbegriff. Das Subjekt des Konstruktivismus ist ein nur psychisches Subjekt, das über keinen realen Körper verfügt, es ist eine Seele ohne realen Leib, ein Subjekt ohne Bedürfnisse, wie schon das körperlose denkende „Ich“ im Dualismus Descartes.
Konstruiert man aber als Subjekt mit einem bedürftigen Leib, dann hat das Psychische zumindest auch die Funktion, zur Befriedigung der Bedürfnisse des Leibes beizutragen um ihn zu erhalten. Dazu aber bedarf es aber der Realität, welcher auch der Leib des Konstruktivisten angehört. Das „Cogito, ergo sum“ meint auch „Construo, ergo sum“ – ich konstruiere also bin ich – auch leiblich, auch real.
Das kausalistische Konzept der Mainstreampsychologie ist, wie die Resultate neurophysiologischer Forschung zeigen, unhaltbar geworden. Diesen Nachweis erbracht zu haben, bleibt das dauerhafte Verdienst des Konstruktivismus.
Die Lösung dieses Problems der Beziehung von Realität und Erkenntnis erfordert aber die Konstruktion eines Begriffs des realen, leiblichen Subjekts, das sich der von ihm konstruierten psychischen Abbilder der Realität zur Organisation seiner selbsterhaltenden Aktionen bedient. Die Umwandlung von autonom konstruierten psychischen Bildern zu Abbildern der Realität durch Zuordnung der Realität zu diesen kann nicht innerhalb der Psyche erklärt werden, es erfordert die Kategorie der Tätigkeit.
In der Tätigkeit werden die psychischen Konstrukte zu Abbildern der Realität. Die Anerkennung der Abbildcharakters der psychischen Entitäten erfordert weder die Anerkennung des Empirismus noch die Anerkennung der die Realität ignorierenden Wirklichkeitskonzeption des Konstruktivismus. In der Tätigkeit konstruiert das Subjekt Abbilder der Realität. Diese Konstrukte werden in der Tätigkeit zur Rekonstruktion der Realität.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Abbildung 1: Mögliche Kurse durch eine Meerenge. Die Kenntnis des Kurses erfordert keine Kenntnis des Küstenverlaufs, sie ermöglicht auch keine Aussagen über den Küstenverlauf. (Vgl. Watzlawick)

 

 

 

 

 

 

 

 

Angemerkt:
/1/ Als Metapher für diese Art der Zuordnung könnte man an die Perlenkette denken, die in verschiedenen Religionen als „Rosenkranz“ das Beten steuert, wobei den einzelnen Perlen je nach ihrer Position und je nach Religion ein bestimmtes Gebet zugeordnet ist.

 

 

 

 

 

 

Weiterführende Links: Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung,
Funktonsbegriff Mathematik (Wikipedia), Abbildbegriff (Wikipedia)

Weiterführende Literatur:
Descartes, René (2006): Abhandlung über die Methode, die Vernunft richtig zu gebrauchen, Hoffmann u.Campe, Hamburg,
Watzlawick, Paul (2006): Die erfundene Wirklichkeit, Piper & Co.Verlag, München, Zürich,
Roth, Gerhard (1997): Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main,
Roth, Gerhard (2001): Fühlen, Denken, Handeln , Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Zürich,
Roth, Gerhard (2003): Aus Sicht des Gehirns, MMV Medizin Verlag, MMV Medizin Verlag GmbH,

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© Dr. G. Litsche 2006
Letzte Bearbeitung: 01.06.2011