Gehirn und Geist 1
oder
Warum die
Neurophysiologie den Geist nicht findet
„Das Manifest“ hat eine alte Debatte
neu belebt. Die Standpunkte sind bekannt. Die Neurophysiologie meint, dass
die Probleme von Psyche und Geist mit ihren naturwissenschaftlichen
Mitteln gelöst werden können. Das Prinzip heißt: „Weiter so, nur mehr und
besser!“ Diese Position wird von anderen prinzipiell bezweifelt, die
meinen, dass Psyche und Geist prinzipiell nicht neurophysiologisch
verstanden werden können. Beziehungen zwischen Psychischem und
Physiologischem werden zwar von keiner Position bestritten, werden jedoch
mit eher schwammigen Termini wie „beruhen auf“, „verknüpft“ oder
„beschreibbar“ mehr geahnt als gewusst. Die Reife wissenschaftlicher
Begriffe wird bei der Beschreibung der Beziehungen zwischen Psychischem
und Neurophysiologischem von keiner Seite erreicht.
Der „intensive Dialog“, in den Geisteswissenschaften und
Neurowissenschaften werden „... treten müssen“, (Das Manifest, S.36)
erfordert zunächst eine gemeinsame Sprache. Solange es die nicht gibt,
werden beide weiter Monologe verfassen und aneinander vorbei reden. Darauf
verweist auch Prinz in seiner Stellungnahme: „Was hier nämlich fehlt, ist
eine übergeordnete Theorie, die die objektive Sprache, in der wir über
Gehirnprozesse reden, und die subjektive Sprache der Bewusstseinsphänomene
zueinander in Beziehung setzt und im Rahmen eines einheitlichen Systems
den objektiven und den subjektiven Sachverhalten ihren Platz zuweist.“
(Prinz, S.35)
*
Ein Schlüsselbegriff, mit dem sich
Neurophysiologie und die Wissenschaften von Psyche und Geist verständigen
könnten, ist der Begriff des Subjekts.
Im Begriff des Subjekts werden Bestimmungen abgebildet wie Autonomie,
Aktivität, Bedürfnis, Antrieb usw. Diese Bestimmungen liegen aber
außerhalb des Kategoriensystems von Thermodynamik und Reaktionskinetik und
deshalb auch außerhalb des Kategoriensystems der Neurophysiologie. Wie
auch immer man den Subjektbegriff fasst, physikalische und chemische
Prozesse haben kein Subjekt.
Darin liegt auch der Grund für den Standpunkt von Psychologie und
Geisteswissenschaften, dass die Neurophysiologie keinen erklärenden
Beitrag zur Lösung ihrer Probleme leisten kann. So verharren sie in dem
Dilemma, keinen naturwissenschaftlichen Zugang zu ihrem Gegenstand zu
finden weshalb sie auf philosophischem Wege suchen.
Die Naturwissenschaften bilden in sich ein System von grundlegenden
Theorien, die logisch untereinander verträglich sind und deren
grundlegende Thesen wie die Erhaltungssätze oder die Gesetze der
biotischen Evolution in jeder einzelnen Theorie gültig bleiben. Das ist in
vielen Theorien der Psychologie und Geisteswissenschaft anders. Nicht
wenige enthalten grundlegende Sätze, die nicht nur jeweils untereinander
logisch unverträglich sind, sondern vielfach auch unverträglich mit
grundlegenden Sätzen der Naturwissenschaften. Tooby
& Cosmides
(1992) haben sich dazu
grundlegend geäußert. Roth
diskutiert dieses
Problem unter dem Aspekt der Ergebnisse der modernen Neurophysiologie und
kritisiert die logische Unverträglichkeit von Natur‑ und
Geisteswissenschaften als fehlende Anschlussfähigkeit vieler
anthropologischer Begriffe an grundlegende naturwissenschaftliche
Kategorien:
„Die in einem bestimmten Begriffsystem verwendeten Begriffe dürfen nämlich
nicht ausschließlich in diesem System eindeutig sein, sondern sie müssen
eine Anschlußfähigkeit an umfassendere Begriffsysteme aufweisen.
(Roth 2003, S. 195)
Das gilt aber auch umgekehrt. Solange die Neurophysiologie keinen
Anschluss zum Begriff des Subjekts herstellt und an den Kategorien von
„erkennendem und zu erkennenden Objekt“ (Das Manifest, S.36
Hervorhebung von mir – G.L)) festhält, verschließt sie sich selbst den
Zugang zu den Wissenschaften von Psyche und Geist.
Das, was in diesen Wissenschaften das Wirken des Subjekts ausmacht, wird
im Kategoriensystem der Neurophysiologie als Leistung des Gehirns
dargestellt. Sie soll erforschen können, wie „...das Gehirn arbeitet; wie
es die Welt so abbildet, dass unmittelbare Wahrnehmung und
frühere Erfahrung miteinander verschmelzen; wie das innere Tun als "seine"
Tätigkeit erlebt wird und wie es zukünftige Aktionen
plant...“ (Manifest, S. 33 Hervorhebungen von mir. G-L.). Setzt man das
Gehirn an die Stelle des Subjekts, dann stellt sich beispielsweise
natürlich die Frage, ob es über einen eigen Willen verfügt. Fasst man
dagegen das Gehirn als Organ des Subjekts auf, mit dem dieses die Welt
abbildet, mit dem es sein – des Subjekts - inneres Tun erlebt und
seine Aktionen plant, dann stellt sich die Frage nach dem eigenen
Willen ganz anders. Das Gehirn braucht ebenso wenig einen eigenen Willen,
wie die Hand. Beides sind Organe, mit denen das Subjekt seinen Willen
realisiert. Diesen eigenen Willen des Subjekts kann man nicht im Gehirn
finden, dort wird er erst nachweisbar, wenn er bewusst geworden ist, und
das ist erst eine gewisse Zeit, nachdem er vom Subjekt konstituiert worden
ist. Damit sind die bekannten aktuellen Befunde neurophysiologischer
Experimente, auf die sich die aktuelle Diskussion um den eigenen Willen
bezieht, logisch widerspruchsfrei erklärt. Als autonome Leistung des
Subjekts entzieht sich der eigene Wille dem Zugriff traditioneller
neurophysiologischer Untersuchung.
*
Wenn die Gesetze der biotischen
Evolution gültig bleiben sollen, ist es erforderlich, die Entstehung
autonomer, aktiver Subjekte als Resultat des physikalisch- chemischen
Prozesses der Entstehung und Evolution des Lebens zu verstehen. Wenn das
nicht gelingt, bleiben Psyche und Geist naturwissenschaftlich
unverstanden.
Um den Prozess der Entstehung lebender Subjekte naturwissenschaftlich zu
verstehen, reicht die Analyse der Prozesse der chemischen Evolution nicht
aus, denn das Subjekt ist keine Kategorie von Physik oder Chemie und kann
folglich nicht aus deren Gesetzen erklärt werden. Ein Regelkreis, der
beispielsweise die Temperatur eines Systems regelt, ist keine Kategorie
der Theorien seiner Bestandteile. Ein technisches und ein biotisches
Regelsystem unterliegen den gleichen Gesetzen, unabhängig von der
Beschaffenheit seiner materiellen Realisierung.
Ebenso sind die das Subjekt ausmachenden Bestimmungen wie Autonomie oder
Aktivität keine seiner physikalischen oder chemischen Eigenschaften. Sie
kommen dem Subjekt ohne Bezug auf seine materielle Beschaffenheit zu. Wäre
das nicht so, könnten die Systemeigenschaften neurophysiologischer
Prozesse auch in nicht lebenden und nicht zellularen Systemen wie
Computern modelliert werden.
Wie das Beispiel des Regelkreises zeigt, verfügen Biologie und Technik auf
der Ebene systemtheoretischer Beschreibung über eine gemeinsame Sprache,
mit der beide ihre spezifischen Fragestellungen bearbeiten und beschreiben
können. Der Biologe denkt dann bei dem Wort „Regelzentrum“ eben an andere
Entitäten als der Techniker. Keiner aber versucht, das Wesen des
Regelzentrums aus der Analyse der Beschaffenheit seines biotischen oder
technischen Gegenstandes zu erklären. Der Systemtheoretiker muss sich
wiederum gar nicht für bestimmte Regelkreise interessieren. Die
Gesetzmäßigkeiten seines Gegenstandes resultieren aus der Funktion seines
Systems und den Beziehungen der dazu erforderlichen funktionellen
Komponenten ohne Rücksicht auf deren Beschaffenheit.
Damit ist angedeutet, wie Neurowissenschaften und Geisteswissenschaften zu
einer gemeinsamen Sprache kommen können. Die Neurowissenschaften
untersuchen die neurophysiologische Beschaffenheit der funktionellen
Komponenten, durch die das Subjekt die Funktionen von Psyche und Geist
realisiert. Nur diese Funktionen sind für das Subjekt bedeutsam. Für das
Subjekt ist es gleichgültig, wie die funktionellen Komponenten im
Einzelnen beschaffen sind, wenn sie nur die für das Subjekt erforderlichen
Funktionen erfüllen. Deshalb können sie prinzipiell auch durch technische
Geräte ersetzt werden wie künstliche Gelenke oder Chips, welche gewisse
Funktionen der Netzhaut unterstützen sollen.
Aktuelle Untersuchungen beispielsweise an Bienen belegen, dass deren
Nervensystem bei der Abbildung der Realität ähnliche psychische Funktionen
realisieren kann wie Großhirne von Wirbeltieren. So sind beispielsweise
die neuerdings (vgl. z.B. Menzel 2004) auch
bei Insekten nachgewiesenen komplexen psychischen Abbilder wohl nicht a
priori als Variationen der als prinzipiell gleichartig anzusehenden
psychischen Abbilder der Säugetiere aufzufassen, auch wenn sie in der
Steuerung der Tätigkeit die gleiche Funktion erfüllen. Auch das
Hyperstratum des Vogelhirns entspricht funktionell dem Großhirn der
Säuger, ist neurophysiologisch jedoch ganz anders beschaffen. Gleiche
psychische Funktionen können also von unterschiedlichen materiellen
(biotischen wie technischen) Komponenten realisiert werden. Die psychische
Funktion kann folglich nicht aus den neurophysiologischen Eigenschaften
des Nervensystems abgeleitet werden, sondern aus den funktionellen
Anforderungen, die aus der autonomen Tätigkeit des Subjekts folgen.
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Für die zu entwickelnde gemeinsame
Sprache von Neurophysiologie, Psychologie und Geisteswissenschaften ist
der Begriff des Subjekts offensichtlich von entscheidender Bedeutung.
Damit er seine übergreifende Funktion auch erfüllen kann, muss er
außerhalb der zu integrierenden Wissenschaften angesiedelt werden. Das
gelingt, wenn er wie der Begriff des Regelkreises als systemtheoretische
Kategorie angelegt wird, und so gleichgültig wird gegen die
thermodynamischen, reaktionskinetischen und neurophysiologischen Gesetze
seiner Komponenten.
Der gedankliche Zugang zu diesem Zusammenhang wird auf der Erde dadurch
erschwert, dass uns mit den Lebewesen nur eine einzige Form von Subjekten
anschaulich gegeben ist. Lebewesen als Subjekte zu begreifen erfordert
aber nicht, ihre irdische Form als die einzig denkbare anzusehen. Die
Gesetzmäßigkeiten der Subjekte und ihrer Tätigkeit sind unabhängig von
dieser konkreten Form. Eine systemtheoretische Theorie der Subjekte und
ihrer Tätigkeit ermöglichte es allen Wissenschaften vom Leben, sich in
dieser Sprache ebenso widerspruchsfrei zu verständigen, wie beispielsweise
Techniker und Biologen in der Sprache der Regelungstheorie.
Grundzüge einer solchen Theorie habe ich in meiner Arbeit „Theoretische
Anthropologie“ vorgelegt. Dort konnte auch gezeigt werden, dass auf der
Grundlage eines systemtheoretischen Subjektbegriffs die grundlegenden
Kategorien der Wissenschaften von Psyche und Geist evolutionstheoretisch
in einem begrifflichen und terminologischen Systems abgebildet werden
können, das Wege zur Entwicklung einer logisch konsistenten und
widerspruchsfreien gemeinsamen Sprache zeigt, in der Neurophysiologen,
Psychologen und Geisteswissenschaftler ihre jeweils spezifischen Inhalte
kommunizieren können.