Subjekte

Menschen können nur als Menschen sein, indem sie einander Subjekte sind.

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Gehirn und Geist 2

oder

Warum die Psychologie das Gehirn nicht findet

Es ist sicher anregend, wenn eine Standortbestimmung der Psychologie im 21. Jahrhundert1 mehr Fragen als Antworten enthält. Wenn aber die wenigen Antworten durchweg mit „wir glauben“, „wir meinen“ und ähnlichen Floskeln eingeleitet werden während die Floskel „wir wissen“ fehlt, mag die Tatsache, dass „...die Psychologie in der öffentlichen Wahrnehmung zunehmend in den Hintergrund gedrängt“2 wird, manchem verständlich erscheinen.
Das Dilemma der Psychologie hat seinen Ursprung darin, dass sie nach wie vor keinen Begriff ihres Gegenstandes hat. Davon kann man sich leicht überzeugen, wenn man das Stichwort „Psyche“ in einschlägigen Wörterbüchern sucht. Die Aufzählung „psychischer“ Phänomene wie „...menschliches Wahrnehmen, Denken, Erinnern, Urteilen, Problemlösen und Handeln...“3 hilft da auch nicht weiter, da ja unklar bleibt, warum die aufgezählten Erscheinungen psychische Phänomene sein sollen und nicht beispielsweise biotische. Empfindungen oder Wahrnehmungen beispielsweise sind lange vor der Entstehung des Menschen als funktionelle Leistungen tierischer Organismen entstanden. Sind sie darum keine psychischen Leistungen? Was also macht eine biotische Leistung zu einem psychischen Phänomen?

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Ungeachtet der Unterschiedlichkeit der Standpunkte und Herangehensweisen stimmen Psychologie und Neurophysiologie darin überein, dass das Psychische als eine Funktion des Nervensystems aufzufassen ist. Die daraus folgende Frage ist also die, wie „...unser Gehirn all die komplexen psychischen Phänomene und Leistungen hervorbringt...“4. Die Neurophysiologie versucht das, indem sie die Kategorien der Psychologie auf die ihren zurückführt und so die Ergebnisse der einen Wissenschaft in der Sprache der anderen ausdrückt. So heißt es im Manifest der Neurophysiologen, „...dass sämtliche innerpsychischen Prozesse mit neuronalen Vorgängen in bestimmten Hirnarealen einhergehen - zum Beispiel Imagination, Empathie, das Erleben von Empfindungen und das Treffen von Entscheidungen beziehungsweise die absichtsvolle Planung von Handlungen“. Diese sind „... grundsätzlich durch physikochemische Vorgänge beschreibbar.“5 (Hervorhebung von mir - G.L.) Die Neurophysiologie braucht also keine psychologischen Kategorien, sie meint, diese durch ihre eignen Termini bezeichnen zu können.
Die Psychologie weist dieses Vorgehen zurück und verweist auf ihre Existenz als „eigenständige Wissenschaft“ , auf die „Psychologie ohne Hirnforschung“6 (). Indem sie auf diese Weise die Hirnforschung aus der Psychologie vertreibt, versperrt sie sich zugleich den Zugang zu den Ergebnissen der Neurophysiologie und zwingt sich selbst einen begrifflichen und terminologischen Apparat auf, in welchem ihre grundlegenden Kategorien und Begriffe eigenständig und ohne Bezug auf neurophysiologische Phänomene definiert sind. Im Kategoriensystem der Psychologie ist kein systematischer Platz für neurophysiologische Kategorien (es gibt keine Variablen für sie). Sie müssen diesem additiv hinzugefügt werden und haben daher keine Bedeutung für das Begriffssystem der Psychologie.

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Wie kann eine Psychologie ohne Hirnforschung auskommen, wenn zugleich festgestellt wird, dass es keine Psyche ohne Hirn geben kann, wenn zugleich gelten soll:  “ ...die Idee, dass die ganze Vielfalt psychischer Phänomene eine Leistung unseres komplexesten Organs, des Gehirns, ...stellt ... eine gut begründete und bislang konkurrenzlose Prämisse dar.“7
Neurophysiologie und Psychologie können zueinander nicht kommen, weil sie keine gemeinsame Sprache haben.
Darauf verweist auch Prinz in seiner Stellungnahme zum Manifest der Neurophysiologen: „Was hier nämlich fehlt, ist eine übergeordnete Theorie, die die objektive Sprache, in der wir über Gehirnprozesse reden, und die subjektive Sprache der Bewusstseinsphänomene zueinander in Beziehung setzt und im Rahmen eines einheitlichen Systems den objektiven und den subjektiven Sachverhalten ihren Platz zuweist.“8. Weder Neurophysiologie noch Psychologie verfügen demnach über einen begrifflichen und terminologischen Apparat, mit dem sie die Bestimmungen der Gegenstände der jeweils anderen Wissenschaft adäquat in ihrem System erfassen und darstellen könnten. Die erforderliche „übergeordnete Theorie“ kann also weder eine neurophysiologische noch eine psychologische Theorie sein. Sie muss außerhalb beider Wissenschaften gesucht werden.

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Die Verbindung zwischen beiden muss folglich in einem übergeordneten Kategoriensystem geschaffen werden. Ich schlage vor, das Kategoriensystem der Systemtheorie in geeigneter Weise weiterzuentwickeln. Als Schlüsselbegriff, mit dem die Neurophysiologie und die Wissenschaften von Psyche und Geist verbunden werden können, bietet sich der Begriff des Subjekts an. Im Begriff des Subjekts werden Bestimmungen abgebildet wie Autonomie, Aktivität, Bedürfnis usw. Diese Bestimmungen liegen einerseits außerhalb des Kategoriensystems von Thermodynamik und Reaktionskinetik und deshalb auch außerhalb des Kategoriensystems der Neurophysiologie. Wie auch immer man den Subjektbegriff fasst, physikalische und chemische Prozesse haben kein Subjekt.
Etwas komplizierter liegen die Verhältnisse in der Psychologie. Nicht selten wird die Kategorie des Subjekts als Kategorie der Psychologie angesehen. Das hängt damit zusammen, dass es auf der Erde nur eine Art von Subjekten gibt, die Lebewesen. Uns ist nur eine Art von Systemen bekannt, die materielle Träger von Subjektivem sind.
Die Kategorie des Subjekts darf daher auch nicht als psychologische Kategorie gefasst werden, wenn sie der Beschreibung der Verbindung zwischen psychischen und neurophysiologischen Phänomenen dienen soll. Nur so kann eine Psyche ohne Nervensystem gedacht werden soll. Sie darf also nicht als Funktion des Nervensystems gedacht werden, wenn sie als eigenständige Kategorie verstanden werden soll. Dass ist möglich, indem Psyche als Leistung des Subjekts verstanden wird. Dabei ist das Subjekt präzise als systemtheoretische Kategorie  zu fassen.
In der Sprache der Systemtheorie ließe sich das Verhältnis zwischen den psychischen Phänomenen und seinen neurophysiologischen Trägern dann etwa so formulieren: „Das Subjekt erzeugt in seiner Tätigkeit die Psyche mittels seines Nervensystems.“ Als systemtheoretische Begriffe gefasst liegen die Begriffe des Subjekts und der Tätigkeit außerhalb des Kategoriensystems sowohl der Neurophysiologie als auch der Psychologie und können deshalb beide verbinden.
In einer solchen begrifflichen und terminologischen Konstellation behalten Neurophysiologie und Psychologie ihre Eigenständigkeit und können zugleich ihre Beziehungen zueinander präzise bestimmen. Mausfeld stellt also die falsche Frage, wenn er resignierend feststellt:“ ...
dass bislang niemand auch nur den Schimmer einer Idee hat, welches die physikalischen Prinzipien sind, auf deren Basis das Gehirn psychische Phänomene hervorbringt.“ 9 Nicht das Gehirn bringt psychische Phänomene nach physikalischen Prinzipien hervor, sondern irdische Subjekte bringen mittels ihrer Nervensysteme psychische Phänomene nach systemtheoretischen Prinzipien hervor.

 
 




 

Weiterführende Links:
Psychologie im 21. Jahrhundert

Weiterführende Literatur:
1 Psychologie im 21. Jahrhundert – eine Standortbestimmung. Gehirn & Geist, Heft 7-8/2005, S. 56-60
2
Ebenda, S. 56, 3 Ebenda, S. 57, 4 Psychologie im 21. Jahrhundert ..., S. 57, 5 Das Manifest ... S. S.33
6 Wissenschaft im Zwiespalt. Streitgespräch. Gehirn & Geist, Heft 7-8/2005, S. 64.
7 Psychologie im 21. Jahrhundert, a.a.O. S. 56, 8 Prinz, Wolfgang (2004): Neue Ideen tun Not. Gehirn & Geist, S. 35, 9 Wissenschaft im Zwiespalt. A.a.O. S. 63.

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© Dr. G. Litsche 2006
Letzte Bearbeitung: 01.06.2011