Subjekte

Menschen können nur als Menschen sein, indem sie einander Subjekte sind.

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Der neurophysiologische Aspekt

Das aktuelle Paradigma der Neurophysiologie wird am klarsten, wenn man das Modell der Nervenzelle als ihrem grundlegenden Untersuchungsgegenstand betrachtet (Abbildung 1). In diesem Paradigma kann die Nervenzelle nur reagieren, autonome Aktionen der Nervenzellen sind in diesem Konzept nicht denkbar. Auch beliebig viele zusammen geschaltete Nerverzellen dieser Art können kein autonomes System ergeben.
Dieses Paradigma bestimmte und bestimmt nun auch die Organisation der experimentellen Forschung, auf die zutrifft, was Lorenz bereits an der klassisch-behavioristischen Verhaltensbiologie kritisierte:

"Die völlige Unbegründetheit dieser Anschauungen konnte deshalb nie zutage treten, weil kein Reflexologe und kein Behaviorist je in die Lage kam, den Ablauf einer längeren, hochdifferenzierten Kette arteigener angeborener Verhaltensweisen überhaupt zu Gesicht zu bekommen. Die Forschungsmethode beider großen mechanistischen Schulen beschränkte sich bekanntlich auf Experimente, in denen eine Zustands-Änderung in den auf den Organismus einwirkenden Umgebungsbedingungen gesetzt und die Antwort des Tieres auf diese Änderung registriert wurde. Die vorgefaßte Meinung, daß der Reflex und der bedingte Reflex die einzigen wesentlichen „Elemente“ alles tierischen und menschlichen Verhaltens seien, bestimmte eben eine ganz spezielle, kaum je variierte Art der Versuchsanordnung, bei der das untersuchte Zentralnervensystem gewissermaßen gar keine Gelegenheit bekam, zu zeigen, daß es auch etwas  anderes zu leisten imstande sei, als einwirkende Außenreize zu beantworten. Bei der ausschließlichen Anwendung dieser Methodik musste die Meinung bestärkt werden, daß sich die Leistung des Zentralnervensystems im Aufnehmen und Beantworten äußerer Reize erschöpfe.
Da niemand unter den Mechanisten je nachsah, was die Tiere, sich selbst überlassen, tun, konnte auch unmöglich einer von ihnen bemerken, daß sie spontan, d.h. ohne Einwirkung äußerer Reize, nicht nur etwas, sondern sogar sehr vielerlei tun." (Lorenz I, S. 128f.)

In diese Richtung weisen auch die von von Holstund Mittelstae und Anochin vorgebrachten kritischen Einwände gegen die Reflextheorie des Verhaltens. Sie untersuchten, ob es unter den neuronalen Prozessen auch solche gibt, die nicht dem Schema des Reflexes folgen und auch nicht mit diesem vereinbar sind.
Von Holst  entdeckte so die spontane, automatisch-rhythmische Erzeugung von Erregungen als weitere Elementarleistung des zentralen Nervensystems. Diese internen Erregungen hat von Holst experimentell nachgewiesen, indem er aus einem Regenwurm ein Stück Bauchmark herauspräpariert, in eine physiologische Lösung gelegt und davon die elektrischen Impulse abgeleitet hat. Dabei stellt er fest:

„Schließlich dürfte der rhythmische Kontraktionsimpuls in einem Stück Bauchmark, das man aus dem Wurm herauspräpariert und in physiologische Lösung legt, nicht mehr zustande kommen, da hier ja alle Möglichkeiten eines Reflexreizes genommen sind – in Wirklichkeit läuft in solch einem isolierten Bauchmarkstück der Rhythmus pausenlos ab. Durch Ableitung der elektrischen Entladungen der Ganglienzellen lässt sich das Weiterlaufen des Rhythmus noch über Stunden nachweisen (unpubliziert). Der zentrale Rhythmus bedarf also überhaupt nicht notwendig peripherer Reize, er ist nicht reflektorischer, sondern automatischer Natur.“ (, S. 8f.)

Zusammenfassend führt er aus:

„Die zentrale Koordination beruht nicht auf Kettenreflexmechanismen, sie ist von grundsätzlich anderer Art. Ihre Werkzeuge sind Vorgänge, die sich allein im Innern des ZNS selbst abspielen. Der „Reflex“ ist dazu da, diesen inneren Ablauf den sich ändernden peripheren Bedingungen jeweils anzupassen, ihn nach dieser oder jener Richtung hin abzuwandeln. Er ist nicht der Grundvorgang selbst, wie man so allgemein glaubt, sondern entweder ein zusätzliches Attribut des zentralen Mechanismus oder, wohl meistens, ein kompliziertes Zusammenspiel zusätzlicher Mechanismen mit den hier beschriebenen aktiven zentralen Kräften.“ (Ebenda, S. 37)

Von Holst fasst seine Kritik am traditionellen Reflexbegriff mit folgenden Worten zusammen:

„Das kennzeichnende Merkmal dieser neuen Denkart ist eine Blickwendung um 180°. Wir fragen nicht nach der Beziehung zwischen einer gegebenen Afferenz und der durch sie bewirkten Efferenz, also nach dem „Reflex“, sondern gehen umgekehrt von der Efferenz aus und fragen: Was geschieht im ZNS mit der von dieser Efferenz über die Effektoren und Rezeptoren verursachten Afferenz, die wir die „Reafferenz“ nennen wollen?“ (Ebenda, S. 39)

Die in Abbildung 2 wieder gegebene Darstellung des Reafferenzprinzips von Holsts erfordert zumindest in Zn eine Nervenzelle, die die autonom Impulse generiert (Abbildung 1 On Mouseover).
Anochin entwickelte etwa zur gleichen Zeit wie von Holstein anderes Konzept der Reafferenz. Reafferenz ist in diesem Konzept Teil eines sog. „funktionellen Systems“. Mit diesem Konzept versucht Anochin das Pawlowsche Reflexkonzept, das nur isolierte Reaktionen betrachtete, in ein ganzheitliches Konzept des Tiers einzubinden. In besonderer Weise befasste er sich mit der Homöostase grundlegender physiologischer Parameter wie der Sauerstoffkonzentration im Blut.
Rezeptoren stellen nach Anochin den inneren Bedarf fest und übermitteln diesen nerval oder humoral an das Zentrum. Dort findet eine Afferenzsynthese „A“ aller afferenten Signale statt, die zu einem „Aktionsakzeptor“ verrechnet werden. Dazu führt  aus:

„Somit besitzen alle funktionellen Systeme des Organismus ein und dieselbe prinzipielle physiologische Architektur. Ihr Unterschied besteht nur in der Bestimmungstechnik. Ein System mit einem stabilen lebenswichtigen Endeffekt (wie z. B. der osmotische Druck im Blut) benutzt als Vergleichsapparat die erblich vorgegebenen Eigenschaften entsprechender lebender Zellen, wodurch auch die Art der Auslese der Zwischenaktionen bestimmt wird. Bei den episodisch auftretenden funktionellen Systemen vom Verhaltenstyp hingegen bildet sich der Vergleichsapparat (der Aktionsakzeptor) zusätzlich jedes Mal neu auf der Grundlage der Afferenzsynthese aller im betreffenden Augenblick vorhandenen inneren und äußeren Einwirkungen auf den Organismus.
All diesen funktionellen Systemen ist gemeinsam, daß die Bildung des Apparates für die Beurteilung der möglichen Ergebnisse der bevorstehenden Aktion bereits erfolgt, bevor die Aktion selbst sich ausbildet und ihre Ergebnisse eintreten.
In letzter Zeit haben wir immer häufiger Befunde erhalten, die dafür sprechen, daß das Zentralnervensystem das Prinzip des Aktionsakzeptors in sehr breitem Umfang anwendet.
Es besteht Grund zu der Annahme, daß sich in dem Augenblick, in dem irgendeine efferente Erregung in die Peripherie geht, sofort auch der Apparat des Aktionsakzeptors bildet, der die Aufgabe hat, die künftigen Ergebnisse mit dem, was auf der efferenten Seite „ausgegeben“ wurde, zu vergleichen.“ (Anochin
 (1978), S. 87)

Sowohl von Holst als auch Anochin bleiben mit ihrer Terminologie im Rahmen des Behaviorismus und gestalten die Ergebnisse ihrer Arbeiten so als kumulativen Beitrag zu diesem Paradigma. Deshalb vermögen auch die Reafferenzprinzipien nicht das Korsett des Reflexkonzeptes zu verlassen.

Die Formulierung eines neuen Paradigmas erfordert also auch eine eigenständige Terminologie. Um das hier entwickelte Begriffssystem nicht nachträglich wieder in dieses Korsett zu zwingen, werde ich in meiner Darstellung wie Ausdrücke „Reiz“ und „Reaktion“ nicht zur Beschreibung tierischen oder menschlichen Verhaltens benutzen. Der Behaviorismus führt sowohl in der Verhaltensbiologie wie in der Neurophysiologie  zu einer Auffassung des Lebens, in der das Lebewesen auf das Niveau eines Automaten reduziert wird, der auf eine äußere Einwirkung, den Reiz, wartet, auf den er dann in bestimmter angeborener oder erlernter Weise reagiert. In dieser Sichtweise agiert das Lebewesen nicht, es reagiert.

 



 .
Abbildung 1: Traditionelles Paradigma der Nervenzelle.
Die Nervenzelle reagiert nur auf äußere Einwirkungen, autonome Aktionen (On Mouseover) sind nicht vorgesehen.

 


Abbildung 2: Reafferenzprinzip nach von Holst:
"Wir betrachten irgendein Zentrum, Z1 , das einen Effektor EFF motorisch und sensorisch versorgt. Dieser Effektor kann ein Muskel, ein Glied oder der ganze Körper sein. Dem Zentrum Z1 sind ein oder mehrere Zentren Z2 bis Zn übergeordnet. Irgendein Kommando K von Zn –  d.h. eine bestimmte Änderung des nach Z1 absteigenden Impulsstroms – veranlasst hier eine efferente Impulsfolge E, die eine ihr streng zugeordnete, mit bestimmter zeitlicher Verzögerung in der benachbarten Ganglienmasse sich ausbreitende Aktivitätsänderung verursacht, die Efferenzkopie  EK. Der in die Peripherie abfließende Efferenzstrom E löst über den Effektor die zugehörige Reafferenz A aus, die mit der Efferenzkopie  in Wechselwirkung tritt. Wir wollen die Efferenz und ihre Kopie hier willkürlich mit Plus (+), die Reafferenz  mit (-) bezeichnen. Die Efferenzkopie und die Reafferenz heben sich in Z1 gegenseitig genau auf: Das von Zn absteigende Kommando fließt unbehindert als Efferenz heraus. Sobald in-/ 49/ folge irgendeiner äußeren Einwirkung  am Effektor die gesamte Afferenz zu groß oder zu klein ist, so bleibt in Z1 entweder ein + - oder ein -- -Rest übrig. Dieser Rest wird aufwärts – wie wir sehen werden, manchmal bis zu den höchsten Zentren – weitergeleitet; wir wollen ihn eine Meldung M nennen. Die aufsteigende Meldung kann – aber muß nicht !  - auf ihrem Wege in Z2 eine Abzweigung haben und dort noch einmal mit dem absteigenden Kommando K eine Summe bilden. In diesem Falle wird das System von Z2 abwärts sich selbst im Gleichgewicht halten; es wird zu einem Regelsystem im Sinne der Techniker. Nehmen wir etwa an, eine Einwirkung auf den Effektor EFF verursache eine Zunahme der  -- -Afferenz in Z1, so wird jetzt die aufsteigende -- -Meldung in Z2 das  + - Kommando verringern, bis wieder Gleichgewicht herrscht. Und umgekehrt wird eine von außen  verursachte Abnahme der -- -Afferenz in Z1 einen + -Rest ergeben, und dieser wird über Z2 das + -Kommando verstärken. Es wird also beide Male die
Efferenz so lange geändert, bis keine Meldung mehr von Z1 weitergeht. Am Beispiel der Lageorientierung haben wir ein solches Regelsystem schon kennengelernt.
 Wir wollen nun noch jede Änderung der Afferenz, die nicht direkte Folge einer Efferenz ist, sondern durch äußere Einwirkungen – über Proprio – oder über Exterorezeptoren – entsteht,  eine Exafferenz nennen. Die Exafferenz ist also in unserem Schema der + - oder -- - Rest in Z1, der als Meldung weiterläuft." (Holst, S. 49f.)


 

 

Weiterführende Links:
Nervenzelle,
Weiterführende Literatur:
Lorenz, Konrad (1992): Über tierisches und menschliches Verhalten - Gesammelte Abhandlungen I und II, Piper & Co.Verlag, München, Zürich, Holst, Erich von (1974): Zentralnervensystem , Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München, Anochin, Pjtor Kusmitsch (1978): Beiträge zur allgemeinen Theorie des funktionellen Systems, Gustav Fischer Verlag, Jena,

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© Dr. G. Litsche 2006
Letzte Bearbeitung: 23.03.2010