Subjekte

Menschen können nur als Menschen sein, indem sie einander Subjekte sind.

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Paradigma ohne Theorie

Die Kategorien „Paradigma“ und „Theorie“ gehören unterschiedlichen Bezugssystemen an. Die Kategorie „Theorie“ ist erkenntnistheoretischer Natur, während die Kategorie „Paradigma“ von Psychologie und Soziologie bearbeitet wird. Die Gültigkeit („Wahrheit“) einer wissenschaftlichen Theorie hängt nicht davon ab, ob sie von vielen oder wenigen Menschen akzeptiert, „geglaubt“ wird. Erst ihre Akzeptanz macht aber eine Theorie zum Paradigma. Eine Theorie ist also Paradigma stets nur für die Gruppe von Wissenschaftlern, die diese Theorie akzeptieren, die an diese Theorie glauben. Diese Gemeinsamkeit macht sie zu einer wissenschaftlichen Gemeinschaft, „Schule“, einer „scientific community“. Nur innerhalb dieser Gruppe kann ein Diskurs geführt werden.
Kuhn hat vorwiegend am Beispiel der Physik den Prozess beschrieben, durch den wissenschaftliche Theorien zu Paradigmata werden. Diese Wissenschaft ist dazu besonders geeignet, weil in ihr der Prozess der Paradigmatisierung zu einem zumindest vorläufigen Abschluss gekommen ist. Das System der grundlegenden Gesetze der Physik hat gegenwärtig den Charakter eines universellen wissenschaftlichen Paradigmas angenommen. Sie ist zum Mainstream der Naturwissenschaften, ja der Wissenschaften schlechthin geworden.
Kein Mensch, der ernst genommen werden will, würde heute an der Gültigkeit der Trägheitsgesetze oder der Hauptsätze der Thermodynamik zweifeln. Eine neue Theorie in einer naturwissenschaftlichen Disziplin, die im Widerspruch zu den Grundgesetzen der Physik steht, hätte keine Chance, als Dissertation angenommen oder als Beitrag in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift veröffentlicht zu werden.
Das führte beispielsweise zu den Diskussionen, die um die Mitte des 20. Jahrhunderts in der Biologie geführt wurden. Die Unvereinbarkeit mancher in der Biologie empirisch gewonnener Daten mit dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik war für die biologische Theorie ein ernsthaftes Problem. Es konnte erst gelöst werden, nachdem Bertalanffy und Prigogine mit den Begriffen des offenen thermodynamischen Systems und der dissipativen Struktur die Theorie der Nichtgleichgewichtsthermodynamik entwickelt hatten. Dadurch wurde das theoretische System der Physik so weiter entwickelt, dass es sich nun zumindest teilweise als Paradigma auch für die Biologie eignete. Im Zusammenhang mit den Ergebnissen der Eiweißchemie wurden so nun viele Ergebnisse der empirischen biologischen Forschung mit den physikalischen Paradigmata vereinbar.
Was die grundlegenden Paradigmata der Physik betrifft, umfasst diese „scientific community“ heute nahezu die Gesamtheit der Naturwissenschaftler. Wissenschaftliche Schulen mit eigenen Paradigmata bilden sich nur noch in Teilbereichen der Forschung und im Rahmen der unbezweifelten grundlegenden Paradigmata.
Ganz anders ist die Situation in den nichtbiologischen Disziplinen, beispielsweise der Psychologie. Hier hat sich noch keine der entwickelten Theorien bei einer hinreichend großen Gruppe von Psychologen als allgemein gültiges Paradigma der Psychologie durchgesetzt. Dieser Zustand wird seit den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als „Krise der Psychologie“ bezeichnet, und es fehlt nicht an Stimmen, die diese Krise als bis heute anhaltend bezeichnen.
Vygotskij hat bereits im Jahre 1927 sehr anschaulich die Art und Weise beschrieben, in der sich in der Psychologie die verschiedensten Versuche zur Paradigmatisierung abgespielt haben (und bis heute abspielen) :
 "Jede bedeutendere Entdeckung auf irgendeinem Gebiet der Psychologie, die über die Grenzen dieses Teilbereichs hinaus­geht, hat die Tendenz, sich in ein Erklärungsprinzip für alle psychologischen Erscheinungen zu verwandeln und die Psychologie über ihre eigenen Grenzen hinauszuführen. ...Das allgemeine Schicksal und die Entwicklung solcher Erklärungsideen verlaufen, schematisch gesehen, folgendermaßen: Am Anfang steht die Entdeckung irgendeiner Tatsache von mehr oder minder großer Bedeutung. Sie verändern die Vorstellung von dem gesamten Gebiet der Erscheinungen, auf das sie sich bezieht, und sie reicht sogar über die Grenzen der speziellen Gruppe von Erscheinungen hinaus, innerhalb derer sie beobachtet und formuliert  wurde.
Nun folgt ein Stadium, in dem diese Ideen auf benachbarte Gebiete Einfluß nehmen. Eine Idee wird sozusagen auf mehr Material ausgedehnt, als sie erfaßt. Dabei verändert sich auch die Idee selbst (oder ihre Anwendung), sie wird abstrakter for­muliert, Ihre Verbindung zu dem Material, aus dem sie hervor­ging, schwächt sich ab und nährt lediglich weiterhin die Überzeugungskraft der neuen Idee, die ihren Siegeszug als wissen­schaftlich überprüfte, stichhaltige Entdeckung vollendet. ...

Im dritten Stadium beherrscht die Idee bereits mehr oder minder die ganze Disziplin, in der sie erstmals auftauchte. Sie hat sich dadurch teilweise selbst gewandelt und zum Teil den Aufbau sowie den Umfang der Disziplin verändert.
Im vierten Stadium löst sich die Idee wieder von ihrem Grundbegriff, weil allein schon die Tatsache des Eroberns ­sei es auch nur in der Form, daß ein von einer einzelnen Schule verteidigtes Projekt auf den ganzen Bereich des psychologischen Wissens, auf alle Disziplinen ausgedehnt wird - die Idee in ihrer Entwicklung vorantreibt. Die Idee bleibt so lange Erklärungsprinzip, bis sie die Grenzen des Grundbegriffs überschreitet. ...
Die Idee schließt sich jetzt offen dem einen oder anderen philosophischen System an, breitet sich auf entfernteste Bereiche des Seins, auf die ganze Welt aus, wobei sie sich verändert und verändernd wirkt, und sie wird als universelles Prinzip oder sogar als ganze Weltanschauung formuliert.
Die Entdeckung, die sich zu einer Weltanschauung aufgeblasen hat wie ein Frosch zu einem Ochsen, dieser Bürger im Adelsstand, kommt nun in das gefährlichste, das fünfte Entwicklungsstadium: Sie platzt wie eine Seifenblase; jedenfalls gelangt sie in ein Stadium des Kampfes und der Ablehnung."( Vygotskij S73ff.)
Wie mir scheint, ist die Kognitionspsychologie der Gegenwart gut auf diesem Wege.

Die Mehrheit der Psychologen hat sich jedoch wohl mit diesem Zustand abgefunden oder sogar als „pluralistische Wissenschaft par excellence“ (Psychologie im 21. Jahrhundert, S.56) zum besonderen Wert erklärt.
Das bedeutet natürlich nicht, dass die Psychologie nicht über ein gemeinsames Paradigma verfügte. Natürlich gibt es dieses Paradigma. Es ist die gemeinsame Überzeugung, dass das Psyche und Geist – was immer das sein mag -  auf jeden Falle immaterieller Natur ist, deren Gesetze nicht auf die Gesetze der Naturwissenschaften zurückgeführt werden und die nicht der Sprache der Naturwissenschaften dargestellt werden können.
Dieses Paradigma besagt also, was Psyche und Geist nicht sind. Das aber ist die Crux der Psychologie: Aus einer negativen Bestimmung kann man keine Theorie entwickeln. So hat die Psychologie also ein Paradigma, aber keine Theorie, auf der dieses Paradigma beruht.
Paradigmata können bekanntlich zwei unterschiedliche Ausgangspunkte haben: philosophische Konzepte oder wissenschaftliche Theorien. Eine entstehende Wissenschaft geht gewöhnlich aus der Philosophie hervor. Diese bildet dann den paradigmatischen Rahmen für die ersten, ursprünglichen Theorien der entstehenden Wissenschaft. Diese sind dann die Grundlage für die Paradigmatisierung der Wissenschaft. In der Psychologie hat sich bislang keine ihrer Theorien als Paradigma durchgesetzt.
Für eine Theorie mit paradigmatischem Anspruch
reicht es nicht zu sagen, was Psyche und Geist nicht sind. Die Psychologie muss auch sagen, was Psyche und Geist sind. Sie muss noch immer ihren Gegenstand bestimmen.
Den Zugang zur Lösung ihres Grundproblems verbaut sie sich selbst dadurch, dass sie darauf besteht, eine Naturwissenschaft zu sein. Deshalb sucht sie auch nach den physikalischen Prinzipien, die den psychischen Prozessen kausal zugrunde liegen.
So heißt es in der Stellungnahme führender deutscher Psychologen zur "Psychologie im 21. Jahrhundert" über das Verhältnis von Psychologie und Neurophysiologie:
"Solange wir nicht wissen, welche physikalischen Prinzipien psychischen Phänomenen und Leistungen kausal zu Grunde liegen – sei es der Sprach- oder Zahlengebrauch, das Urteilsverhalten oder die Wahrnehmung von Intentionen anderer –, solange stellen neurophysiologische Daten nicht mehr als Korrelationen dar, die selbst wiederum einer Erklärung bedürfen. Dies scheint uns ein zentraler Punkt im Verhältnis von Psychologie und Hirnforschung zu sein." (S.63).
Im gleichen Heft sagt Mausfeld, einer der Autoren der Stellungnahme:
"Wir sollten nicht vergessen, dass bislang niemand auch nur den Schimmer einer Idee hat, welches die physikalischen Prinzipien sind, auf deren Basis das Gehirn psychische Phänomene hervorbringt. Die Erklärungsprobleme werden also mit diesen Befunden nicht kleiner, sondern größer! (S. 63)

In diesen Fragestellungen kommt die methodologische Dominanz der physikalischen Paradigmata deutlich zum Ausdruck. Man stellt die universelle methodologische Gültigkeit der physikalischen Paradigmata überhaupt nicht in Frage und versucht, die vom psychologischen Paradigma postulierten immateriellen Gegenstände mit naturwissenschaftlichen Methoden objektwissenschaftlich zu untersuchen. Man sucht so die Lösungen dort, wo sie nicht zu finden sind. Die Fragen sind falsch gestellt. Subjekte müssen auch subjektwissenschaftlich untersucht werden.
Es geht nicht darum, die Gültigkeit der physikalischen Gesetze und Paradigmata in Frage zu stellen. Es geht nur darum, die unreflektierte Übertragung der physikalischen Paradigmata auf die Methodologie von Psychologie und Geisteswissenschaften in Frage zu stellen. Ohne Zweifel gelten die physikalischen Gesetze in der Physik, aber gelten sie in der gleichen Weise auch im Bereich der Psyche? Ist „Wissenschaft“ gleich „Naturwissenschaft“, ist "wissenschaftlich" gleich "naturwissenschaftlich"? Wenn anerkannt wird, dass die Psyche eine Kategorie sui generis ist, muss auch anerkannt werden, dass sie auf eine eigene Weise zu untersuchen ist. Die Suche nach diesen Methoden hat die empiristische Psychologie aufgegeben und sich dem methodologischen Diktat der Physik unterworfen.
Eine zentrale Kategorie in Psychologie und Geisteswissenschaften ist ohne Zweifel die des „autonomen Subjekts“. Das Nennen des eigentlich tautologischen Prädikats „autonom“ ist deshalb erforderlich, weil den Implikationen dieser Bestimmung ob ihrer scheinbaren Trivialität meist keine weitere Beachtung geschenkt wird. Aber gerade diese Bestimmung ist es, welche die materiellen Träger von Psyche und Geist, die autonomen Subjekte von den heteronomen Objekten der Naturwissenschaften unterscheiden. Die physiko-chemischen Prozesse der Objekte werden kausal durch äußere Einwirkungen verursacht, sie sind fremdbestimmt. Die selbsterhaltenden Aktionen der Subjekte werden von diesen autonom selbst bestimmt. Die Art und Weise dieser Selbstbestimmung kann nicht im Kategoriensystem der Fremdbestimmung der „Objektwissenschaften“ dargestellt werden. Die „Subjektwissenschaften“ müssen ihr eigenes Kategoriensystem entwickeln.
In den Teilprojekten "Systeme" und "Biogenese" habe ich einen Weg zu zeigen versucht, auf dem der naturwissenschaftliche Begriff logisch folgerichtig zum Begriff des Subjekts weitergeführt werden kann. Dieser könnte der gemeinsame Grundbegriff von Subjektwissenschaften sein, zu denen auch die Biologie gehören muss. So wie vor 50 Jahren der Thermodynamik der Systembegriff fehlte, so fehlt der Biologie von heute ein Subjektbegriff. Solange die Biologie die Lebewesen nur als fremdbestimmte Automaten versteht, kann sie das selbstbestimmte Wesen der lebenden Systeme, ihre Selbsterhaltung nicht verstehen. Erst eine Theorie des Subjekts kann der Biologie einen neuen paradigmatischen Rahmen bieten. An dieser Theorie arbeiten Biologen seit über 100 Jahren, auch wenn dies von der Mainstream-Biologie zwar zur Kenntnis genommen wird, jedoch keine allgemeine Akzeptanz gefunden hat.
Einige Etappen der historischen Entwicklung dieses Paradigmas habe ich in diesem Teilprojekt dargestellt. In meinem Buch "Theoretische Anthropologie" habe ich einen Entwurf für eine Theorie des Subjekts vorgelegt.
Im Bereich der Subjektwissenschaften kann nun auch die Psychologie ihren Gegenstand auch subjektwissenschaftlich bestimmen. So lässt sich ein Begriff der Psyche als spezifische Beziehung zwischen den Zellen als Teilsubjekten im mehrzelligen Gesamtsubjekt definieren. Dieser Begriff bewahrt die Eigenständigkeit des Psychischen ohne in Konflikt mit der Kausalität der Objektwissenschaften zu geraten. Auf dieser Grundlage lässt sich schließlich auch die Kategorie „Geist“ als die spezifische Form des Psychischen beim (gesellschaftlichen) Menschen bestimmen, die in den Gegenständen seiner Kultur ausgedrückt werden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zitiert:
"In der Psychologie herrscht vieler Orten Aufbruchsstimmung. ... Neue Methoden und neue Konzepte stehen auf dem Plan. Vielen scheint gewiß, daß die Problemstellungen, die mit den Veränderungen der Gegenwart einhergehen, den Ruin der bisherigen Mainstream-Psychologie endgültig besiegeln werden. Doch mit einer Grabrede allein ist noch nichts ... Tatsächlich aber dreht sich das Krisenkarussell der Psychologie weiter. Die „Krise der Psychologie“ ist ein Problem mit langer Geschichte (z.B. WYGOTSKI 1985, STAEUBLE 1985, MAIERS 1988), aber auch die Kritik kann unter dem Aspekt der Krisenhaftigkeit betrachtet werden. Die „neuen“ psychologischen Ansätze bilden keineswegs eine pluralistische Harmonie, kein konzeptionelles Netzwerk, sondern erscheinen heftig zerstritten und teilweise sogar völlig inkompatibel." (Cavkaytar, S.1)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
Literatur:
Cavkaytar, Ender (1999): Die Krise der Kritik in der Psychologie * Subjektwissenschaft und Sozialer Konstruktionismus, Dissertation.de, Berlin,
Vygotskij, Lev, S. (2003): Die Krise der Psychologie in ihrer historischen Bedeutung. In: Vygotskij, Lew (2003): Ausgewählte Schriften Band I, Berlin, 57 bis 278
Führende deutsche Psychologen über Lage und Zukunft ihres Fachs und die Rolle der psychologischen Grundlagenforschung (2005): Psychologie im 21. Jahrhundert.  Gehirn & Geist, Heidelberg, S. 56 bis 60.

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© Dr. G. Litsche 2006
Letzte Bearbeitung: 23.03.2010