Subjekte

Menschen können nur als Menschen sein, indem sie einander Subjekte sind.

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Der Tätigkeitsbegriff Leont´evs

Die vollständigste Fassung erfuhr das Tätigkeitsparadigma durch den Psychologen A. N.  Leont´ev. Als Psychologe hatte er sich auch umfangreiches Wissen auf dem Gebiet der Verhaltensbiologie angeeignet, die damals vom Behaviorismus dominiert war. Dieses Wissen orndete er unter dem Aspekt der Tätigkeit neu .
Sein Problem war die Entstehung des Psychischen. Bei der Lösung dieses Problems ging er davon aus, dass das Psychische eine natürliche Eigenschaft des Lebendigen ist, die auf einer bestimmten Entwicklungsstufe des Lebendigen notwendig entsteht. Diese Überlegung führte ihn zu der Frage nach "... der ursprünglichen, der Ausgangsform des Psychischen" (S. 9). Das Psychische konnte so nur aus nichtpsychischen Lebensformen abgeleitet werden.
Das führte Leont´ev zu einer begrifflichen Unterscheidung zwischen der ursprünglichen Reizbarkeit und der Sensibilität als früheste Form des Psychischen. Als Psychologe bewegte sich Leont´ev im Kategoriensystem des Behaviorismus Pawlowscher Prägung. Die Kategorie der Reizbarkeit wurde nicht hinterfragt, es ging nur um die Frage ihrer Entstehung.
Die Beantwortung dieser Frage  nach der Natur der ursprünglichen Lebensprozesse führte ihn zur Konstruktion seines Tätigkeitsbegriffes. Diese Konstruktion entwickelte er aber weder aus dem Paradigmensystem der traditionellen Psychologie noch aus dem der traditionellen Biologie, sondern (mit Bezug auf F. Engels) aus dem allgemeinen naturwissenschaftlichen Begriff der Wechselwirkung zwischen Naturkörpern.

"Mit dem Entstehen des Lebens entsteht vor allem eine neue Form der Wechselbeziehung der zusammenwirkenden Körper. In der unbelebten Natur äußert sich diese Wechselwirkung in einer ununterbrochenen, mehr oder weniger langsamen Veränderung der Körper, die allmählich zerstört und in andere umgewandelt werden....Unterbräche man die Wechselwirkung (sofern das physikalisch möglich wäre), dann könnte man einen anorganischen Körper unverändert erhalten.
In der organischen Welt dagegen ist die Wechselbeziehung darauf gerichtet, die aufeinander wirkenden Körper zu erhalten. Während  jeder anorganische Körper aufhört, das zu sein, was er früher war, ist die Wechselwirkung für lebende Körper – wie wir sahen – eine notwendige Voraussetzung ihres Daseins. ... Wird dagegen die Wechselwirkung der Organismen mit anderen  Körpern ihrer Umwelt unterbrochen oder gestört, dann sie dem Untergang und Verfall ausgeliefert."

" ... Dabei tritt das neue, für das Leben charakteristische Verhältnis nicht einfach mechanisch an die Stelle des alten. Es bildet sich auf der Grundlage jener früheren Beziehungen, und diese bleibt auch für einzelne Elemente des Organismus, die unablässig zerstört und wieder erneuert werden, weiterhin in Kraft. ... Das neue, für das Leben charakteristische Verhältnis beseitigt mithin nicht einfach die Wechselbeziehungen, wie sie für anorganische Körper typisch sind, sondern hebt sie dialektisch auf.
(1964, S. 21f)

Indem die Natur als einheitliches Ganzes aufgefasst wird, wird Leben nicht außerhalb der leblosen Natur angesiedelt , sondern als organischer Teil des Naturganzen, in dem prinzipiell die gleichen Gesetzmäßigkeiten gelten. Die lebende Natur wird so als Teil des Naturganzen abgebildet, die sich nur durch die Spezifik ihre Wechselwirkung mit der leblosen Natur auszeichnet.
Auf dieser Grundlage gelingt es ihm, dieses spezifische Verhältnis in einem logisch und semantisch widerspruchsfreien begrifflichen und terminologischen System darzustellen.

"Das Verhältnis des lebenden Körpers wandelt sich dagegen auf der Stufe des organischen Lebens. Der organische Körper verändert sich, indem er sich selbst erhält, wächst und vermehrt; es handelt sich bei ihm um einen aktiven Prozeß. Der unbelebte Körper dagegen wird durch äußere Einwirkungen verändert. Dieser Sachverhalt läßt sich auch anders ausdrücken: Der Übergang von den Formen der Wechselwirkung, die der anorganischen Welt eigen sind, zu Formen, wie sie für die lebende Materie typisch sind, findet seinen Ausdruck in der Tatsache, daß einerseits ein Subjekt und andererseits ein Objekt der Einwirkung hervorgehoben werden kann." (1964, S. 26)

Damit ist zunächst das Subjekt als Glied einer zweistelligen Relation bestimmt. Die selbst Relation bezeichnet er als "Tätigkeit":

"Wir werden die spezifischen Prozesse, die ein Lebewesen vollzieht und in denen sich die aktive Beziehung des Subjekts zur Wirklichkeit äußert, von anderen Vorgängen abgrenzen und als Prozesse der Tätigkeit bezeichnen." (1964, S. 29)

Im Folgenden führt er den Begriff des Objekts zum Begriff des Gegenstandes weiter.

"Zugleich wollen wir auch den Begriff des Gegenstandes einengen, der gewöhnlich in doppeltem Sinne verwendet wird: im weiteren Sinne als Ding, das in irgendeinem Verhältnis zu anderen Dingen steht, und im engeren Sinne als etwas, was uns gegenübersteht (deutsch „Gegenstand“), was uns entgegentritt (lat. „objectum“), worauf sich die Aktion richtet, das heißt als etwas, zu dem das Lebewesen in Beziehung tritt und das es zum Gegenstand seiner Tätigkeit macht, und zwar gleichgültig, ob es sich um eine innere oder eine äußere Tätigkeit handelt (beispielsweise Gegenstand der Nahrung, Gegenstand der Arbeit, Gegenstand der Überlegungen). In unseren weiteren Ausführungen werden wir den Begriff „Gegenstand“ in diesem engeren, speziellen Sinne gebrauchen." (Ebenda)

In dieser Formulierung ist das Subjekt die bestimmende Komponente, das Subjekt macht etwas zu seinem Gegenstand. Deshalb verwundert es etwas, wie Leont´ev fortfährt:

"Jegliche Tätigkeit eines Organismus richtet sich auf diesen oder jenen Gegenstand; eine gegenstandslose Tätigkeit ist undenkbar. Wollen wir also die Tätigkeit betrachten, dann müssen wir vor allem hervorheben, was ihren tatsächlichen Gegenstand bildet, das heißt das Objekt der aktiven Beziehung des Organismus." (Ebenda)

Und wenige Zeilen später, nachdem er diesen Gedanken an Beispielen illustriert, schreibt er dann:

"Die mannigfachen Tätigkeiten, die die vielfältigen Lebensbeziehungen des Organismus zur ihn umgebenden Wirklichkeit realisieren, werden wesentlich durch deren Gegenstand bestimmt. Deshalb werden wir vom Gegenstand ausgehen, wenn wir zwischen einzelnen Arten der Tätigkeit unterscheiden." (Ebenda)

Von dieser Feststellung ist es zum Begriff der Reizbarkeit nur noch ein Schritt. Nur wenige Zeile später heißt es dann auch:

"Die wichtigste Besonderheit der Wechselwirkung lebender Organismen mit ihrer Umwelt besteht – wie wir sahen – darin, daß jede Antwort (Reaktion) des Organismus auf eine äußere Einwirkung ein aktiver Prozeß ist und auf Kosten der Energie des Organismus vollzogen wird.Die Eigenschaft der Organismen, unter dem Einfluß von Umwelteinwirkungen in Tätigkeit zu geraten, das heißt ihre Reizbarkeit, ist eine grundlegende Eigenschaft jeder lebenden Materie: sie ist eine notwendige Voraussetzung des Stoffwechsels und damit auch des Lebens." (S. 30)

Damit war Leont´ev wieder bei seinem Ausgangspunkt, dem Begriff der Reizbarkeit aus Ausgangspunkt des Psychischen angekommen. Mit diesem Übergang zur Terminologie des Behaviorismus hatte er aber die bereits gefunden autonome Aktion wieder zur Reaktion degradiert und das autonome Subjekt ging - wie schon bei Lorenz und von Holst -  wieder verloren. Das autonome Subjekt kann nur unter konsequenter Vermeidung der behavioristischen Terminologie dargestellt werden.
Dessen ungeachtet bleibt der Leont´evsche Begriff der Tätigkeit ein mächtiges theoretisches Instrument nicht nur für die Psychologie, sondern für alle Wissenschaften vom Menschen und für die Biologie. Seine Potenzen sind bei weitem nicht ausgeschöpft. Die internationale Verbreitung der auf seinem Ansatz entwickelten Tätigkeitstheorie und deren Anwendung auf die spezifisch menschliche Tätigkeit durch die kulturhistorische Schule sind erst der Anfang.

 

 

 

 

Angemerkt:
Eine ausführliche Darstellung der Kategorien Reizbarkeit" und " "Sensibilität"  findet man bei Messmann, Alfred; Rückriem, Georg (1978): Zum Verständnis der menschlichen Natur in der Auffassung des Psychischen bei A. N. Leontjew, In: Rückriem, Georg Hrsg. (1978): Historischer Materialismus und menschliche Natur. Pahl-Rugenstein, Köln

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Angemerkt:
Auch wenn die Terminologie Leont´evs einen ganz anderen begrifflichen Inhalt ausdrückt, so springt die Ähnlichkeit mit der Uexküllschen Terminologie doch ins Auge. Uexküll entwickelte seine Terminologie in seiner Schrift "Theoretische Biologie". Diese muss Leont´ev entgangen sein, da er die Biologie nur nebenbei und in Bezug auf seine Fragestellung verfolgte. Hinzu kommt, dass dieser Aspekt der Uexküllschen Terminologie auch in der deutschen verhaltensbiologischen Wissenschaft kaum rezipiert wurde.

 

Zitiertes:
"Und so sind wir denn wieder zurückgekehrt zu der Anschauungsweise der großen Gründer der griechischen Philosophie, daß die gesamte Natur, vom Kleinsten bis zum Größten, von den Sandkörnern bis zu den Sonnen, von den Protisten bis zum Menschen, in ewigem Entstehen und Vergehen, in unaufhörlichem Fluß, in rastloser Bewegung und Veränderung ihr Dasein hat. Nur mit dem wesentlichen Unterschied, daß, was bei den Griechen geniale Intuition war, bei uns Resultat streng wissenschaftlicher, erfahrungsmäßiger Forschung ist und daher auch in viel bestimmterer und klarerer Form auftritt." (Engels, MEW, S.320)

Weiterführende Links:
International Society for Cultural and Activity Research (ISCAR))
International Cuktural-histotical Human Sciences (ICHS)
Weiterführende Literatur:
Leontjew, Alexej N. (1964): Probleme der Entwicklung des Psychischen. Berlin: Volk und Wissen. Leontjew, Alexej N. (1982): Tätigkeit, Bewusstsein, Persönlichkeit. Köln: Pahl-Rugenstein

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© Dr. G. Litsche 2006
Letzte Bearbeitung: 27.11.2010