Zufall versus Richtung
Das Paradigma der Evolution entstand als Teil der naturwissenschaftlichen
Revolution, die auf dem cartesianischen Rationalismus wurzelnd das
Trägheitsparadigma als ihr zentrales physikalisches Paradigma entwickelte.
Ausgehend von Mathematik und Physik erfasste die naturwissenschaftliche
Revolution auch andere wissenschaftliche Bereiche und entwickelte als
Kontrapunkt zum theologischen Paradigma der Konstanz der Schöpfung das
Paradigma der Evolution der Welt.
Während Lamarck noch am aristotelesschen Prinzip der Teleologie fest
hielt, entwickelte Darwin die erste Evolutionstheorie, die sich
rationalistisch am naturwissenschaftlichen Trägheitsparadigma orientierte,
in dem nichts ohne äußere Ursache geschieht.
Das traditionelle Zufälligkeitsparadigma der Evolutionstheorie besagt,
dass sich die Evolution als zufälliger, ungerichteter Prozess der
Anpassung der Lebewesen an die sich verändernde Umwelt vollzieht. Die
Zufälligkeit der Evolution folgt aus dem Anpassungsparadigma, in dem die
die Zufälligkeit zwei Gründe hat:
·
Die Lebewesen ändern sich infolge von Mutationen, die als
zufällige Ereignisse auf molekularer Ebene geschehen. Die Selektion ist
nun auf die für eine gegebene Umwelt am besten geeigneten („fitesten“)
Phänotypen gerichtet.
Bei einer konstanten Umwelt kann es folglich nicht zu einer Veränderung
der Organismen, zur Evolution kommen. Die Mutation wird in diesem
Paradigma nicht als notwendiger, sondern als störender Faktor aufgefasst,
als „Fehler“, dessen Wirkungen durch die Selektion ausgeglichen werden.
·
Zu Veränderungen der Organismen, d.h. zur Evolution durch
Anpassung (Mutation und Selektion) kann es in diesem Paradigma also nur
durch Veränderungen der Umwelt, d.h. der Ausleserichtung kommen.
Umweltveränderungen erfolgen aber unabhängig vom Leben, sie sind dem Leben
äußerlich und zufällig. So wird auch die Abfolge der wechselnden
Ausleserichtungen als zufällig konstituiert.
Diese Auffassung der Evolution ist ideengeschichtlich durch zwei
Erkenntnislinien bedingt.
·
Die
„Belege“ für die Evolutionstheorie wurden ursprünglich durch Geologie und
Paläontologie erbracht. Diese sind aber naturgemäß an den Veränderungen
der Umwelt der Lebewesen orientiert. Die geologischen Prozesse verlaufen
aber nicht nach den Gesetzen der Evolution.
·
Zum
anderen ist sie Annahme der Zufälligkeit der Mutation den
kausaldeterministischen Paradigmata der Thermodynamik kongenial. Die
Auffassung, dass zufällige Mutationen auf molekularer Ebene makroskopische
(phänotypische) Änderungen bewirken, die den statistischen Gesetzen
Selektion unterliegen, spiegelt das grundlegende Paradigma der
Evolutionstheorie die Gliederung der klassischen Thermodynamik wider,
deren makroskopische Gesetze auf statistischem Wege aus den Gesetzen der
mikroskopischen Ebene abgeleitet werden.
Eine solche Auffassung
kann die Evolution nicht als ein in irgendeiner Weise „gerichteten“
Prozess verstehen. Die gegenwärtig anzutreffende Welt der Lebewesen
erscheint als Werk des Zufalls. In dieser Allgemeinheit sorgt es a
priori in der empirischen Forschung für selbsterfüllende Voraussagen,
die dann auch bestätigt werden.
Sowohl in der wissenschaftlichen wie in der öffentlichen Diskussion wurde
und wird die Annahme einer gerichteten Evolution meist als
unwissenschaftlich disqualifiziert. Dazu dient unter anderem die
Behauptung, dass die Annahme einer Richtung der Evolution auch die Annahme
einer außerhalb des evolutiven Geschehens anzusiedelnden
richtungbestimmenden Entität (vis vitalis, Schöpfer usw.)
erfordert. Das entbindet natürlich a priori von der Suche nach
einer naturwissenschaftlichen Antwort auf die Frage nach einer Richtung
der Evolution.
*
Die theoretische
Grundlage für die physiko-chemische Begründung einer gerichteten
Evolution wurde durch Bertalanffy gelegt, der nicht nur behauptete, dass
die zu seiner Zeit bekannten Gesetze von Physik und Chemie nicht
ausreichten, um biotische Prozesse hinreichen zu beschreiben. Mit den
Begriffen des offenen thermodynamischen Systems und des
Fließgleichgewichts beschrieb er auch neue physikalische Gesetze, die
geeignet sind, biotische Prozesse auf physiko-chemischer Ebene zu
darzustellen.
Aus der Bestimmung der Lebewesen als offene thermodynamische Systeme
folgt, dass lebende Systeme nicht einstellig, für sich betrachtet werden
dürfen, sondern nur als Glied der Beziehung Organismus – Umwelt, als
System (). Nur diese
Beziehung kann als Fließgleichgewicht und damit als thermodynamisches
System im Ungleichgewicht beschrieben werden.
Das Fließgleichgewicht ist nun aber ein gerichteter Prozess, es entwickelt
sich stets in Richtung hin zum thermodynamischen Gleichgewicht. Diese
Eigenschaft wird nach den Gesetzen der Logik auf alle davon abgeleiteten
Entitäten übertragen, auf diese logisch vererbt. Wenn also Leben auch ein
Fließgleichgewicht ist, dann entwickelt es sich auch gerichtet. Die
Analyse dieser Richtung ist - ganz im Sinne Uexkülls - Aufgabe der
biologischen Forschung.
Wenn Lebewesen als
Systeme im Fließgleichwicht rekonstruiert werden, müssen sie mit einer Reihe von
weiteren Bestimmungen ausgestattet werden. Erst mit einer geeigneten
funktionellen Ausstattung kann ein System im Fließgleichgewicht auch zum
lebenden System werden, dessen Beziehung zur Umwelt die Tätigkeit ist. Im
Unterschied zu technischen Systemen, die ein Fließgleichgewicht aufrecht
erhalten (), sind Lebewesen zusätzlich mit der Fähigkeit ausgestattet, selbst
die erforderlichen funktionellen Komponenten (autopoietisch als Autodesign)
hervorzubringen. Es bietet sich an, diese Fähigkeit zum Autodesign „Kreativität“
zu nennen.
Prigogine hat den Ansatz Bertalanffys weiter geführt und mit dem Begriff
der dissipativen Struktur die Fähigkeit der Kreativität physikalisch
begründet. Kreativität erweist sich so als natürliche, physiko-chemisch
erklärbare Eigenschaft des Lebendigen, die beim irdischen Leben an die
Eiweißmoleküle gebunden ist. Kreativität entsteht folglich nach
physikalischen und chemischen Gesetzen im Prozess der Biogenese.
Leben ist also ein in all seinen Erscheinungsformen
gerichteter Prozess. Das gilt nach den Gesetzen der Logik auch für die
Kreativität der Lebewesen und deren Evolution.
Um Missverständnisse zu vermeiden, will ich nochmals darauf hinweisen,
dass diesem Paradigma der Evolution auch ein anderes Paradigma des Lebens
zugrunde liegt. Das Prädikat „lebend“ wird nicht mehr einstellig, nicht
absolut gebraucht, sondern zweistellig, relativ. Ein gegebenes System ist
lebend nur in einer bestimmten Umwelt, in Bezug auf diese. Diese Umwelt
wird durch das lebende System als Subjekt, definiert.
Damit wird eine neue Sicht auf die evoluierenden Entitäten, die
„Einheiten“ der Evolution, begründet. Es sind nicht mehr nur die lebenden
Systeme selbst, sondern die Lebewesen mit der von ihnen bestimmten Umwelt.
Die Rekonstruktion der Evolution darf sich nicht auf die Rekonstruktion
der Lebewesen beschränken, sondern muss die Rekonstruktion der Umwelt
als Resultat und Bedingung der Evolution einschließen.
In der gegenwärtigen Theorie erfolgen die Rekonstruktion der
Entwicklung der Lebewesen, ihres Stammbaums, und die Rekonstruktion der
Entwicklung der Umwelt in verschiedenen Wissenschaften und folglich auch
nach grundsätzlich verschiedenen Prinzipien. Die Biologie übernimmt die
Ergebnisse der geologischen Wissenschaften und führt sie als unabhängige
Variable in die Evolutionstheorie ein. So ist die Frage, ob es ohne
Veränderungen der Umwelt auch zur Evolution gekommen wäre und wie diese
unter dieser Bedingung
verlaufen wäre, auch in der Theorie überhaupt nicht formulierbar. Da so
die Umwelt als für das Leben zufällige Bedingung in die biologische
Theorie eingeführt ist, kann die Anpassung an sich zufällig ändernde
Umweltbedingungen auch theoretisch nur als zufällig erfasst werden. Eine
Theorie aber, die den Zufalls als konstituierende Komponente
enthält, erklärt letztlich garnichts.
Fasst man Leben dagegen als Tätigkeit, als aktive Veränderung der Umwelt,
in der auch Evolution stattfindet, dann kann Evolution theoretisch auch erklärt werden, wenn die Variable
„Veränderung der Umwelt“ = 0 gesetzt wird. Evolution wird dann als Prozess
verständlich, durch den sich die Lebewesen in einer von ihnen selbst, durch
ihre Tätigkeit, gestalteten Umwelt erhalten. Damit entfällt die
Denknotwendigkeit einer zufälligen Evolution.
*
Gewöhnlich wird ein
bewährtes Paradigma nur dann aufgegeben, wenn empirische Daten, die im
Rahmen dieses Paradigmas gewonnen wurden, nicht mehr mit diesem Paradigma
vereinbar sind, nicht mehr in diesem untergebracht werden können. Deshalb
bedarf diese bislang eher theoretisch spekulative Erörterung nun auch
empirischer Daten.
Wie Kuhn überzeugend darstellt, ist dies gar nicht so einfach, denn das
für eine wissenschaftliche Gemeinschaft gültige Paradigma gibt nicht nur
die zu lösenden Fragen vor, sondern bestimmt auch, welche Antworten auf
ihre Fragen zulässig sind. Das traditionelle Paradigma der
Evolutionstheorie lässt infolge seiner allgemeinen Akzeptanz Fragen nach
der Richtung und Gerichtetheit der Evolution gar nicht zu, so dass
einschlägige empirische Untersuchungen überhaupt nicht stattfinden.
Weiter sind zulässige Lösungen im traditionellen Paradigma der
Evolutionstheorie aber nur Lösungen, die dem Prinzip der Ungerichtetheit
genügen. Andere Lösungen gelten a priori als falsch und
unwissenschaftlich. Die Entdeckung von gerichteten Evolutionsprozessen
würde den Bereich zu erwartender Werte sprengen und zurückgewiesen werden.
Es wäre so, als ob die Messung der Geschwindigkeit eines irdischen Körpers
einen Wert über der Lichtgeschwindigkeit ergäbe. Ein solches Ergebnis
würde ohne jede Prüfung zurückgewiesen werden. Kuhn beschreibt solche
wissenschaftlichen Veränderungen. Es kann eben nicht sein, was nicht sein
darf.
Betrachtet man unsere Biosphäre jedoch
unvoreingenommen als Ergebnis der
Evolution, wird sie eigentlich nur verstehbar, wenn die Evolution als
gerichteter Prozess betrachtet wird. Ein solches Maß an Ordnung von
Vielfalt kann nicht als Resultat eines blinden Wirkens von Zufällen gedacht werden.
Das Verharren im traditionellen Paradigma der Zufälligkeit beruht wohl vor
allem darauf, dass die bei seiner Formulierung vorliegenden physikalischen
und chemischen Gesetze einen gerichteten Prozess nicht erklären konnten,
ohne eine übernatürliche Kraft annehmen zu müssen, die in der Wissenschaft
nun wirklich nichts zu suchen hat.
Die Annahme einer ungerichteten Evolution ist im Rahmen der Paradigmata
der klassischen Physik eine „Denknotwendigkeit“. Das ist jedoch heute
anders. Die Thermodynamik irreversibler Prozesse und die Enzymchemie haben
nicht nur das Paradigmensystem von Physik und Chemie weiter entwickelt, sondern ermöglichen
auch eine neue Sicht auf die Evolution. Wie ich zu zeigen versucht habe,
entwickelt sich diese neue Sichtweise, ist wohl aber von einem breiten
Durchbruch noch ein Stück entfernt. Die neuen Erkenntnisse der Physik
offener Systeme werden dem vorhandenen Kenntnissystem meist nur additiv
angehängt. Sie werden behandelt wie Ergebnisse "normaler Wissenschaft" (im
Sinne Kuhns), ihre paradigmatischen Potenzen werden nicht erkannt.
Im System der Paradigmata der Thermodynamik offener Systeme entfallen die Denknotwendigkeiten
der klassischen Physik. Dem wird
man nicht gerecht, wenn man die Schlussfolgerungen der modernen
Erkenntnisse der Physik lediglich als zusätzliche Bestimmung an das
bestehende Theoriensystem anhängt. Ernst Mayrs "Das ist Evolution" ist
das klassische Beispiel für dieses Vorgehen. Es ist vielmehr eine grundlegende
Revision nicht nur des theoretischen Apparats der Evolutionstheorie erforderlich.
Das macht es erforderlich, manche der theoretischen Ansätze, die bisher
mit mehr oder weniger Erfolg in das bestehende Theoriesystem eingeordnet
wurden, in neuem Licht zu sehen. Einige will ich auf den folgenden Seiten
repräsentativ anführen
Im
traditionellen Paradigma erscheint die Zufälligkeit der
Evolution als "evident". Sie bedarf keines Beweises. Bestritten
wird dieses Paradigma eigentlich nur von Kreationisten. Trotzdem gibt es
auch in neuerer Zeit Stimmen von Wissenschaftlern, die des Kreationismus
unverdächtig sind und die es trotzdem für möglich halten, dass die
Evolution ein gerichteter Prozess ist. Sie finden, dass zumindest manche
der vorliegenden empirischen Befunde nicht mit dem Paradigma der
Zufälligkeit vereinbar sind.