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Paradigmen vom Menschen
Das grundlegende
Paradigma jeder Wissenschaft vom
Menschen ist eine Antwort auf die Frage, wodurch sich Menschen von anderen
Lebewesen, speziell von den Tieren unterscheidet. Damit wird festgelegt,
was, welcher Gegenstand untersucht werden soll.
Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung ist stets
eine gedankliche Konstruktion, durch die der wirkliche Gegenstand seine
konkrete Ganzheit verliert und zu einem mehr oder weniger fragmentarischen
Abbild des ursprünglichen Gegenstandes wird.
Ganz gleich, wie die Daten gewonnen werden, welche
die Grundlage der Analyse dieses Gegenstandes bilden (ob durch eigene
empirische Untersuchungen oder durch Auswertung empirischer Untersuchungen
anderer), so muss doch vor jeder Untersuchung geklärt, welcher Gegenstand
untersucht werden soll. Das gilt in besonderem Maße, wenn es sich um einen
Gegenstand handelt, der schon längere Zeit wissenschaftlich bearbeitet
wird. Diese theoretische Vorüberlegung erst ermöglicht es, dasjenige
(experimentelle wie theoretische) Instrumentarium auszuwählen oder zu
entwickeln, welches erforderlich ist, um eine adäquate
Gegenstandsbeschreibung zu gewährleisten. Geht man nämlich von einem vorhandenen
Instrumentarium aus, so bestimmt dieses Art und Umfang der gewinnbaren und
verallgemeinerbaren empirischen Informationen und damit den Gegenstand.
Soweit ich die Menge der vorhandenen Theorien über
den Menschen übersehe, bedienen sich alle einiger Paradigmen, die ich
hier der Einfachheit halber als und „Teil – Ganzes – Paradigma“,
„Umweltparadigma“ und „Gleichartigkeitsparadigma“ bezeichne.
Ein Aspekt der Gegenstandsbestimmung ist die
Bestimmung der Grundeinheit des untersuchten Gegenstandsbereichs. Diese
Grundeinheit ist jenes Gebilde, das nicht in noch kleinere Einheiten
zerlegt werden darf, soll es nicht die Eigenschaften des eigentlich zu
untersuchenden Gegenstandes verlieren.
Zur Verdeutlichung des methodischen Gehalts dieses
Aspekts der Gegenstandsbestimmung sei folgendes Beispiel angeführt: die
chemischen Grundeinheiten von Wasser, die nicht weiter zerlegbar sind ohne
dass sie die chemischen Eigenschaften von Wasser verlieren, sind die
Wassermoleküle. Diese können natürlich weiter in Atome bzw.
Ionen als kleinere Teile zerlegt werden. Dann aber haben wir kein
Wasser mehr vor uns, und die Untersuchung von Wasserstoff-
und Sauerstoffatomen bzw. Ionen ergibt unmittelbar keine Erkenntnisse über
die Eigenschaften des Wassers (auch wenn manche der dabei zu gewinnenden
Erkenntnisse gewisse Eigenschaften des Wassers erklären
können).
Aber auch die makrophysikalischen mechanischen und thermodynamischen
Eigenschaften des Wassers wie seine Farbe, sein Siedepunkt oder die
Oberflächenspannung. sind keine Eigenschaften einzelner, isolierter
Wassermoleküle. Sie treffen nur auf sehr große Mengen vom Wassermolekülen
zu. Inwieweit diese aus den physikalischen Eigenschaften der einzelnen
Moleküle abgeleitet werden können oder ob sie „emergieren“ ist strittig.
Übereinstimmend wird in den meisten Theorien über den
Menschen das Individuum, der einzelne Mensch, als der Gegenstand der
Wissenschaft vom Menschen betrachtet, und das obwohl manchmal schon
erkannt wurde: Ein Mensch allein ist gar kein Mensch.
Das einzelne menschliche Individuum wird im
Teil-Ganzes-Paradigma als kleinster Teil der Menschheit betrachtet,
als deren letzte unteilbare Grundeinheit. Die Gesellschaft erscheint
dann als ein überindividuelles Ganzes, das mehr sein
soll, als die Summe seiner Teile. Über dieses „Mehr“ streiten sich die
Geister.
Die Gesellschaft erscheint als überindividuelle Entität, die eigenen,
außerhalb der Individuen liegenden Gesetzen unterliegt. Diese Gesetze
„emergieren“ auf unerklärte oder unerklärbare Weise.
In Konzepten dieser Art steht den Individuen die Gesellschaft (oft auf
Geist oder Kultur reduziert) als meist übermächtige Kraft gegenüber.
So entsteht das Bild einer Gesellschaft ohne Individuen.
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Dieses
Paradigma ist charakteristisch für den methodischen
Reduktionismus, der die Eigenschaften des Ganzen restlos
auf die Eigenschaften der Teile des Ganzen zurückführen will.
Die entgegengesetzte Position ist der
Holismus, der die Eigenschaften der Teile vollständig aus
den Eigenschaften des Ganzen ableiten will. |
Ins Extrem getrieben wird diese Fixierung auf das
Individuum mit den Versuchen zur Schaffung „künstlicher Intelligenz“ und
zur Konstruktion menschlicher Automaten. Sie gehen von der Annahme aus,
das menschliche Individuum sei als isoliertes Einzelwesen zu
rekonstruieren.
Neue Nahrung erhielt dieses Paradigma durch die
Neurowissenschaften, die per definitionem nur das Nervensystem des
einzelnen Menschen untersucht. Merlin Donald – selbst Neurobiologe – hat
überzeugend dargelegt, dass dieses solipsistische Paradigma
ungeeignet ist, die Besonderheiten des menschlichen Bewusstseins zu
erklären.
In diesem Paradigma wird die aus isolierten
Individuen bestehende Gesellschaft als die soziale Umwelt dieser
Individuen betrachtet. Dieses Paradigma beruht auf dem in der Biologie
entstandenen Organismus – Umwelt – Paradigma. Danach existiert das
menschliche Individuum wie alle Lebewesen in einer bestimmten Umwelt, der
es sich angepasst hat und in der es sich in einer bestimmten Weise
verhält.
Das Umweltparadigma tritt in verschiedenen Formen
auf. Die Umwelt wird als biotische, soziale und dualistisch als
biosoziale (sowohl biotische als auch soziale) Umwelt gefasst. Die
soziale Umwelt besteht aus den anderen Menschen und aus der Welt der
(materiellen und geistigen) Kultur. Weitere Unterschiede bestehen in
der Auffassung der Stellung des Individuums in der Umwelt. Oft wird
ein Primat von Individuum oder Umwelt postuliert. |
Dieses Erklärungsprinzip tritt vor allem in
der Soziologie und der Sozialpsychologie auf. |
Allen dem Umweltparadigma entspringenden
Betrachtungsweisen ist gemeinsam, dass sie die menschliche Gesellschaft
aus den Individuen erklären wollen. Menschliche Gesellschaft entsteht
durch irgend eine Art von Gesellschaftsvertrag zwischen den Individuen.
Wenn man nur wüsste, wie die menschlichen Individuen „funktionieren“, dann
verstünde man auch, wie die Gesellschaft „funktioniert“.
Eine charakteristische Folgerung aus diesem Paradigma ist die Idee, die
Gesellschaft durch Erziehung des Nachwuchses verändern zu können.
Beliebige Ereignisse, die einen Mangel unserer Gesellschaft aufdecken,
rufen „Fachleute“ auf den Plan, die Schule und Familie verantwortlich
machen wollen und die mit Vorschlägen aufwarten, wie das Übel bereits im
Kindergarten bekämpft werden kann.
Verbreitet ist dieses Paradigma in psychologischen pädagogischen Konzepten
der „Sozialisation“,
die als Anpassung an gesellschaftliche Regeln und Normen aufgefasst wird.
Das
Gleichartigkeitsparadigma
In dieser Denkweise werden als das „Wesen“, die
„Natur“ des Menschen die Eigenschaften angesehen, die alle Menschen
miteinander gemeinsam haben. Dabei bleibt meist unreflektiert, welche
Menschen in die Kategorie „Mensch“ aufgenommen werden sollen. Sollen alle
Arten der biologischen Gattung „Homo“ (= Mensch) aufgenommen
werden, also beispielsweise auch Homo erectus oder nur die Art
Homo sapiens, und soll dann der Neandertaler einbezogen sein? Ist das
Wesen des Menschen das, was wir mit den frühen Menschen oder nur das, was
wir mit dem Neandertaler gemeinsam habent? Mit Sicherheit lassen sich für
alle möglichen Festlegungen des Begriffsumfangs „Mensch“ gemeinsame
Merkmale finden, aber haben wir damit auch das Wesen des Menschen
schlechthin verstanden?
Das Ergebnis dieses Herangehens ist folgerichtig das
Paradigma von der Gleichartigkeit der Menschen, ihrer Wesensgleichheit. Es
ist wie bei einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Indem danach
gesucht wird, worin sich alle Menschen gleichen, kann natürlich nur
herauskommen, dass alle Menschen gleich sind.
Das Bemühen, die allgemeinen Merkmale eines
Gegenstandes aufzufinden, führt bei sich entwickelnden Gegenständen
folgerichtig dazu, dass die Gemeinsamkeiten von primitiven und
entwickelten Gegenständen herausgearbeitet werden. Das aber hat zur Folge,
dass gerade die Spezifik des entwickelten Gegenstandes verloren geht; denn
gemeinsam kann so verschiedenen Gegenständen nur das sein, was bereits bei
den primitiven Formen gegeben ist. Die entwickelten Eigenschaften fallen
aus dem Begriff heraus.
Charakteristisch für dieses Paradigma ist also,
dass das „Wesen“, die „Natur“ des Menschen ahistorisch als
unveränderlich angesehen wird, das seit der Entstehung des Menschen,
des menschlichen Individuums unverändert geblieben ist. Verändert
haben sich die Umwelt des Menschen, die Natur, die ihn umgibt und die
Kultur, in der er lebt. Er selbst, sein Wesen haben diese
Veränderungen unverändert überstanden. |
Eine typische Anwendung dieses Prinzips
findet in der Alltagserkenntnis statt:
Wenn von einer –meist negativ - auffälligen Handlungsweise die Rede
ist, heißt es oft: „So ist der Mensch eben".
Das erklärt nicht nur fremdes, sondern
entschuldigt ggf. auch eigenes Verhalten.
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In der evolutionären Erkenntnistheorie werden
schließlich so schnelle Veränderungen der Kultur postuliert, dass das
menschliche Individuum sich schließlich nicht mehr an seine Kultur
anpassen kann.
Die Grundidee eines neuen
Paradigmas muss in der Erkenntnis bestehen, dass der Mensch, das
menschliche Individuum nur in Gesellschaft existieren kann. Obwohl
diese Erkenntnis wohl so alt wie das Nachdenken über den Menschen und
fast schon trivial ist, wurde sie noch nie als grundlegendes
Paradigma einer umfassenden Theorie des Menschen gemacht. Es gibt zwar
immer wieder Formulierungen wie die vom Individuum als Ensemble der
gesellschaftlichen Verhältnisse (Marx, Thesen über Feuerbach) oder die
von der gesellschaftlichen Natur des Menschen (Holzkamp), aber diese
kommen nicht über den Status einer Metapher hinaus. |
Auch die Kritische Psychologie bleibt im
solipsistischen Paradigma. Das hängt mit ihrem Gegenstand – der Psyche
– zusammen, die eine native Eigenschaft des Individuums ist. Auch für
die kritische Psychologie ist charakteristisch, dass die Eigenschaften
der Gesellschaft aus den Eigenschaften des Individuums abgeleitet
werden. |
In einem neuen Paradigma muss als nicht weiter
zerlegbare Grundeinheit der Kategorie ’Mensch nicht das menschliche
Individuum angesehen werden, das dann die Gesellschaft bildet, sondern die
menschliche Gesellschaft, welche die Individuen als ihre Mitglieder
hervorbringt.
Das
erkenntnistheoretische Problem, das in diesem Vorgehen steckt, ist der
Umgang mit dem Teil – Ganzes Problem. Beim
reduktionistischen Vorgehen
wird das Ganze aus den Eigenschaften der Teile erklärt und das Ganze so
auf die Teile reduziert.
Daran ändert sich auch nichts, wenn man die Eigenschaften der Teile als
vom Ganzen bestimmt deklariert. Diese Zuschreibung bleibt ohne
Inhalt, solange nicht das Ganze dargestellt ist. Solange bleibt auch
unklar, wie das Ganze die Eigenschaften der Teile bestimmt. Da hilft auch
kein „Wechsel der Analyseebene“ (Holzkamp), solange der
Analysegegenstand unverändert das Individuum bleibt.
Dieses erkenntnistheoretische Problem ist darin begründet, dass die
Eigenschaften eines Ganzen auf keine Weise aus den Teilen
abgeleitet werden können. Der zu vollziehende gedankliche Übergang ist
nicht der Übergang von den Teilen zu Ganzen sondern der umgekehrte, die
Teile sind aus dem Ganzen zu erklären. Beim Wechsel der Analyseebene
verändert sich das was erklärt wird und das, was erklärt.
Nicht das Ganze muss erklärt werden, sondern die
Teile. Die Frage ist nicht, wie die Teile zum Ganzen
werden, sondern wie das Ganze zu seinen Teilen kommt.
Es ist hier nicht der
Ort, dieses Problem prinzipiell zu lösen. Indem ich aber mit der
Gesellschaft anfange, verhindere ich, dass ich überhaupt erst in die Not
gerate, das Ganze aus seinen Teilen erklären zu müssen. So muss ich an
keiner Stelle das Ganze aus den Teilen erklären, sondern erkläre immer die
Teile als Teile eines Ganzen erklärt.
Seine heuristische Kraft gewinnt das solipsistische
Paradigma aus der darwinistischen Evolutionstheorie. Sie besagt, dass sich
der Mensch, das menschliche Individuum, aus menschaffenähnlichen Vorfahren
entwickelt hat. Aus diesen auf biotischem Wege entstandenen menschlichen
Individuen hat sich dann die menschliche Gesellschaft entwickelt.
Das Sozialparadigma geht dagegen davon aus, dass sich
die menschliche Gesellschaft aus den Sozietäten unserer
menschenaffenähnlichen Vorfahren entwickelt hat. Die sich dabei
vollziehenden Veränderungen der Sozietät sind die Bedingungen, unter denen
sich die Entwicklung ihrer Teile, der Individuen vollzogen haben.
Das dabei Vorgänge wie Mutation und Auslese eine Rolle spielen, bleibt
unbestritten. Die Faktoren, welche die individuelle Auslese steuern, sind
aber nicht Umweltfaktoren, sondern die Anforderungen des Zusammenlebens in
der Sozietät. Die Entwicklung des Ganzen erklärt die Entwicklung der
Teile.
Das darwinistische Paradigma der Evolution ist im Prinzip auch
solipsistisch, Population und Art sind nur Mengen gleichartiger
Individuen, die im Durchschnitt aufgehen. Population und Art erklären sich
aus den Individuen, nicht umgekehrt. Deshalb ist dieses Paradigma nicht
dazu geeignet, die Herausbildung der menschlichen Gesellschaft zu
erklären.
Der so entwickelte Gesellschaftsbegriff ist nativ
ein systemtheoretischer Begriff, denn er abstrahiert von der
stofflichen Beschaffenheit des abgebildeten Gegenstandes, von seinen
Teilen. Nur so kann eine Gesellschaft als Ganzes abgebildet werden,
ohne sie aus Teilen herleiten zu müssen.
„Menschliche Gesellschaft“ meint
also jede Form menschlichen Zusammenlebens, das auf mindestens ein
gemeinsames Ziel gerichtet ist, das arbeitsteilig-kooperativ verfolgt
wird und deren Existenzzeit die Lebenszeit der einzelnen Mitglieder
überdauert. Die Gesellschaft ist deshalb gleichgültig gegen die
Individualität ihrer Mitglieder. Das macht diesen Begriff zu einem
systemtheoretischen Begriff.
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Systemtheoretische
Begriffe zeichnen sich u.a. dadurch aus, dass sie von der konkreten
stofflichen Beschaffenheit der abgebildeten Entitäten abstrahieren.
Typisch ist z.B. der Begriff „Messglied“, für den es gleichgültig ist,
ob es sich um ein Thermometer (und um welches) oder ein Tachometer
usw. handelt. |
Der Gesellschaftsbegriff hat zunächst den Charakter
einer „Black
box“. Als Begriff der menschlichen Gesellschaft muss er jedoch
bereits als agierendes Subjekt, nicht aber als reagierendes System
angelegt werden. Dieses Konstrukt wird aber nicht ad hoc
konstruiert, sondern als Weiterentwicklung des Begriffs der
nichtmenschlichen Sozietät, also eines Ganzen, dessen Funktionsweise als
bekannt angenommen werden kann.
Die zuerst zu lösende Grundfrage muss sein, was tut
die Gesellschaft von sich aus, wie agiert sie, und wie unterscheiden sich
diese menschlichen Aktionen von denen nichtmenschlicher Sozietäten. Erst
von hier aus kann die Frage gestellt werden, über welche Eigenschaften die
Individuen verfügen müssen, die diese menschliche Gesellschaft bilden.
Die Beziehung der Individuum zu ihrer Gesellschaft
ist die Mitgliedschaft. Die Individuen sind Mitglieder
der Gesellschaft. Ihre Eigenschaften – ihre Rechte und Pflichten –
erhalten sie durch die Gesellschaft. Von anderen Eigenschaften wie der
substanziellen Beschaffenheit der Individuen von im systemtheoretischen
Begriff abstrahiert.
Die Kategorien „Gesellschaft“ und „Mitglied“ sind Glieder einer Relation
und können nicht isoliert voneinander gedacht werden. Eine Gesellschaft
ohne Mitglieder ist ebenso undenkbar wie ein Mitglied ohne Gesellschaft.
Logisch gesehen ist die Relation der Mitgliedschaft eine
Äquivalenzrelation, in der die Mitglieder die logischen
Repräsentanten sind, welche die Gesellschaft als Äquivalenzklasse
bilden. Jeder Repräsentant steht für die ganze Klasse, wie beispielsweise
jedes Dreieck für alle Dreiecke steht, die diesem kongruent sind und in
die Klasse der diesem kongruenten Dreiecke gehört.
Als theoretisches Konstrukt muss
dieser systemtheoretische Begriff der Gesellschaft noch keinen
empirischen Inhalt besitzen. Er bekommt einen empirischen Inhalt,
indem der Terminus „Gesellschaft“ zur Bezeichnung realer menschlicher
Gesellschaften benutzt wird, dabei werden der Realität die
Eigenschaften zugeschrieben, die im theoretischen
Begriff konstruiert wurden.
In dieser Weise verwendet wird der
Begriff der Gesellschaft zum systemtheoretischen
Erklärungsprinzip, mit dem der Gegenstand
„Gesellschaft“ beschrieben wird.
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Zuschreibung ist kein deduktiver Schluss, und
die Bildung empirischer Begriffe ist kein induktiver Schluss, denn es
geht nicht um die Wahrheit von Aussagen, sondern um den Umfang von
Begriffen. Begriffe sind nicht wahr oder falsch, sondern nicht leer
oder leer. |
Die Anwendbarkeit des Erklärungsprinzips hängt davon
ab, ob reale Gesellschaften diese Eigenschaften auch wirklich besitzen, ob
die Zuschreibung also empirisch leer wird. Das ist aber eine andere Frage.
Ein empirischer Begriff der Gesellschaft wird auf anderem Wege gewonnen
(konstruiert). Es werden reale Gesellschaften beobachtet. Die dabei
ermittelten Eigenschaften werden verglichen und durch Abstraktion und
Verallgemeinerung wird ein empirischer Begriff gewonnen.
In der Realität begegnet uns die menschliche
Gesellschaft in ihrer Totalität als Menschheit. Im
praktischen Umgang der Menschen untereinander leben sie jedoch in
verschiedenen Ethnien, Kulturen, Staaten u.a. Gemeinschaften zusammen.
Diese sind einerseits in Verwandtschaftsgruppen wie Familien, Sippen usw.
gegliedert. Andererseits bilden sie zur Organisation des gemeinsamen
Lebens mehr oder weniger lange existierende fakultative Gruppen, in denen
sich ebenfalls Beziehungen der Mitgliedschaft herausbilden.
Alle diese Gemeinschaften können mit dem
Sozialparadigma als Erklärungsprinzip beschrieben werden.
In sozilogischen, sozialpsychologischen und pädagogischen Untersuchungen
werden vor allem fakultative Gruppen mit verschiedenen Termini bezeichnet
wie:
v
Clique
v Crew
v
Equipe
v
Kollektiv
v
Schar
v Team
usw.
Sie werden in spezieller Weise oft ad hoc
definiert, manche sind auch ideologisch belastet.
Zur Bezeichnung realer Gemeinschaften von Menschen mit einem gemeinsamen
Ziel, die dieses Ziel arbeitsteilig-kooperativ verfolgen benutze ich den
Ausdruck „kollektiv“. Kollektive Tätigkeit ist also als
arbeitsteilig-kooperativ definiert. Die Mitglieder des Kollektivs sind
seine Repräsentanten.
Auch dieser Begriff des Kollektivs ist ein systemtheoretischer Begriff. Er
wurde nicht durch Beobachtung realer Kollektive gewonnen, sondern als
Konstrukt aus dem Konstrukt „Menschliche Gesellschaft“ abgeleitet. Er
schreibt Merkmale empirisch prüfbar Gruppen von Menschen zu und kann so
widerspruchsfrei auch in empirischen Sinne verwendet werden.
Die jeweilige Verwendungsweise geht gewöhnlich aus dem Kontext hervor, Wo
es angebracht scheint, wird die gemeinte Bedeutung durch Attribute wie
„ideal“ oder „real“ präzisiert. |
Inhalt:
Traditionelle Paradigmen
Das Teil-Ganzes-Paradigma
Das Umweltparadigma
Das Gleichartigkeitsparadigma
Das Sozialparadigma
Der Begriff der Gesellschaft
Reale Gesellschaften
Druckversion (.pdf)
Zitiertes:
"Das Zerrbild vom isolierten
Geist
Ich nenne, und das ist nur halb im Scherz gemeint, die
Evolutionsgeschichte des Menschen gern den »Großen Ausbruch der Hominiden
aus dem Nervensystem«. Wir unterscheiden uns von den Menschenaffen vor
allem durch den Faktor der Kultur oder, genauer gesagt, der symbolischen
Kultur. Er ist größtenteils außerhalb des individuellen Gehirns
anzusiedeln. Eine Kultur verteilt die kognitive Aktivität auf viele
Gehirne und prägt das Innenleben derer, die ihr angehören. Dennoch
untersuchen die Kognitionswissenschaften den Geist mit Methoden, die
eigentlich voraussetzen, dass er jeweils auf das einzelne Gehirn
eingrenzbar sei. Die Kognitionstheorie bezieht den Faktor Kultur in der
Regel nicht in ihre Überlegungen ein oder fasst ihn allenfalls als einen
Teil der Umwelt des Individuums auf. Infolgedessen tendieren die
Kognitionswissenschaften dazu, den Geist isoliert zu betrachten und das
kognitive System als ein in sich geschlossenes, monadenhaftes Gebilde zu
behandeln. Cartesianer, Behavioristen und Kognitivisten stellen sich den
Geist letztlich als eine nach außen hin abgeschlossene Entität vor." (Merlin
Donald, S. 160f.)
Zitiertes::
„Der menschliche Geist, der durch begriffliches Denken, syntaktische
Sprache und der damit entstehenden Vererbbarkeit des traditionellen
Wissens geschaffen wurde, entwickelt sich um ein Vielfaches schneller als
die Seele. Infolgedessen verändert der Mensch die eigene Umwelt sehr
häufig zu ihren und seinen Ungunsten. Im Augenblick ist er im Begriffe,
die Lebensgemeinschaft der Erde, in der und von der er lebt, zu vernichten
und damit Selbstmord zu begehen.Die
Geschwindigkeit, mit der der menschliche Geist sich verändert und mit der
der Mensch durch seine Technologie die eigene Umwelt zu etwas völlig
anderem macht, als sie eben noch war, ist so groß, daß der Gang der
stammesgeschichtlichen Entwicklung im Vergleich zu ihr praktisch
stillsteht. Die Menschenseele ist seit dem Entstehen menschlicher Kultur
im wesentlichen die gleiche geblieben; es ist nicht erstaunlich, daß die
Kultur sehr häufig unerfüllbare Ansprüche an sie stellt.“ (Lorenz, "Der
Abbau der Menschlichen S.417)
Angemerkt:
Als politische Forderung manifestiert sich
diese Beziehung in der Forderung nach der Gleichheit aller Menschen, wie
sie im Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formuliert
ist:
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind
mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der
Brüderlichkeit begegnen.“
Zitiertes:
"Was ist denn ein Kollektiv? Man stellt
sich ein Kollektiv nicht richtig vor, wenn man bloß an eine Summe
einzelner Individuen denkt. Das Kollektiv ist ein sozialer, lebendiger
Organismus23. Es ist deshalb ein Organismus, weil es Organe besitzt: Es
gibt Vollmachten und Verantwortlichkeit, wechselseitige Beziehungen und
ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis. Wenn dies alles fehlt, dann ist
es kein Kollektiv; dann ist es einfach ein Haufen oder irgendeine
Menschenansammlung." (Makarenko, S.239)
"Ein
Kollektiv, das aus Kindern der gleichen Altersstufe zusammengesetzt ist,
hat immer das Bestreben, sich innerhalb der Interessen dieses Alters
abzuschließen und sich ... abzusondern. ... Wenn mein Kollektiv jedoch
verschiedene Altersstufen aufweist, dann sind auch die Neigungen
verschieden; das Leben des Grundkollektivs gestaltet sich mannigfaltiger,
es verlangt von seinen einzelnen Mitgliedern, von jung und alt, größere
Anstrengungen, stellt an die einen wie an die anderen höhere Anforderungen
und hat somit eine größere erzieherische Wirkung.
Ein solches Kollektiv, das aus verschiedenen Altersklassen bestand,
organisierte ich in letzter Zeit nach dem Prinzip ´Jeder, mit wem er
will.´" (Makarenko, S.170)
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