Beiträge zur Erkenntnistheorie

Nichts ist in unseren Sinnen, bevor es in unserem Verstand war.

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Paradigmata
Paradigmen vom Menschen
Zuschreibung
Metapher

 

 

 

Paradigmen vom Menschen

Traditionelle Paradigmen

Das grundlegende Paradigma jeder Wissenschaft vom Menschen ist eine Antwort auf die Frage, wodurch sich Menschen von anderen Lebewesen, speziell von den Tieren unterscheidet. Damit wird festgelegt, was, welcher Gegenstand untersucht werden soll.

Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung ist stets eine gedankliche Konstruktion, durch die der wirkliche Gegenstand seine konkrete Ganzheit verliert und zu einem mehr oder weniger fragmentarischen Abbild des ursprünglichen Gegenstandes wird.

Ganz gleich, wie die Daten gewonnen werden, welche die Grundlage der Analyse dieses Gegenstandes bilden (ob durch eigene empirische Untersuchungen oder durch Auswertung empirischer Untersuchungen anderer), so muss doch vor jeder Untersuchung geklärt,  welcher Gegenstand untersucht werden soll. Das gilt in besonderem Maße, wenn es sich um einen Gegenstand handelt, der schon längere Zeit wissenschaftlich bearbeitet wird. Diese theoretische Vorüberlegung erst ermöglicht es, dasjenige (experimentelle wie theoretische) Instrumentarium auszuwählen oder zu entwickeln, welches erforderlich ist, um eine adäquate Gegenstandsbeschreibung zu gewährleisten. Geht man nämlich von einem vorhandenen Instrumentarium aus, so bestimmt dieses Art und Umfang der gewinnbaren und verallgemeinerbaren empirischen Informationen und damit den Gegenstand.

Soweit ich die Menge der vorhandenen Theorien über den Menschen übersehe, bedienen sich alle einiger Paradigmen, die ich hier der Einfachheit halber als und  „Teil – Ganzes – Paradigma“, „Umweltparadigma“ und „Gleichartigkeitsparadigma“ bezeichne.

Das Teil – Ganzes - Paradigma

Ein Aspekt der Gegenstandsbestimmung ist die Bestimmung der Grundeinheit des untersuchten Gegenstandsbereichs. Diese Grundeinheit ist jenes Gebilde, das nicht in noch kleinere Einheiten zerlegt werden darf, soll es nicht die Eigenschaften des eigentlich zu untersuchenden Gegenstandes verlieren.

Zur Verdeutlichung des methodischen Gehalts dieses Aspekts der Gegenstandsbestimmung sei folgendes Beispiel angeführt: die chemischen Grundeinheiten von Wasser, die nicht weiter zerlegbar sind ohne dass sie die chemischen Eigenschaften von Wasser verlieren, sind die Wassermoleküle. Diese können natürlich weiter in Atome bzw. Ionen als kleinere Teile zerlegt werden. Dann aber haben wir kein Wasser mehr vor uns, und die Untersuchung von Wasserstoff- und Sauerstoffatomen bzw. Ionen ergibt unmittelbar keine Erkenntnisse über die Eigenschaften des Wassers (auch wenn manche der dabei zu gewinnenden Erkenntnisse gewisse Eigenschaften des Wassers erklären können).
Aber auch die makrophysikalischen mechanischen und thermodynamischen Eigenschaften des Wassers wie seine Farbe, sein Siedepunkt oder die Oberflächenspannung. sind keine Eigenschaften einzelner, isolierter Wassermoleküle. Sie treffen nur auf sehr große Mengen vom Wassermolekülen zu. Inwieweit diese aus den physikalischen Eigenschaften der einzelnen Moleküle abgeleitet werden können oder ob sie „emergieren“ ist strittig.

Übereinstimmend wird in den meisten Theorien über den Menschen das Individuum, der einzelne Mensch, als der Gegenstand der Wissenschaft vom Menschen betrachtet, und das obwohl manchmal schon erkannt wurde: Ein Mensch allein ist gar kein Mensch.

Das einzelne menschliche Individuum wird im Teil-Ganzes-Paradigma als kleinster Teil der Menschheit betrachtet, als deren letzte unteilbare Grundeinheit. Die Gesellschaft erscheint dann als ein überindividuelles Ganzes, das mehr sein soll, als die Summe seiner Teile. Über dieses „Mehr“ streiten sich die Geister.
Die Gesellschaft erscheint als überindividuelle Entität, die eigenen, außerhalb der Individuen liegenden Gesetzen unterliegt. Diese Gesetze „emergieren“ auf unerklärte oder unerklärbare Weise.
In Konzepten dieser Art steht den Individuen die Gesellschaft (oft auf Geist oder Kultur reduziert) als meist übermächtige Kraft gegenüber. So entsteht das Bild einer Gesellschaft ohne Individuen.

Dieses Paradigma ist charakteristisch für den methodischen Reduktionismus, der die Eigenschaften des Ganzen restlos auf die Eigenschaften der Teile des Ganzen zurückführen will.
Die entgegengesetzte Position ist der Holismus, der die Eigenschaften der Teile vollständig aus den Eigenschaften des Ganzen ableiten will.

Ins Extrem getrieben wird diese Fixierung auf das Individuum mit den Versuchen zur Schaffung „künstlicher Intelligenz“ und zur Konstruktion menschlicher Automaten. Sie gehen von der Annahme aus, das menschliche Individuum sei als isoliertes Einzelwesen zu rekonstruieren.

Neue Nahrung erhielt dieses Paradigma durch die Neurowissenschaften, die per definitionem nur das Nervensystem des einzelnen Menschen untersucht. Merlin Donald – selbst Neurobiologe – hat überzeugend dargelegt, dass dieses solipsistische Paradigma ungeeignet ist, die Besonderheiten des menschlichen Bewusstseins zu erklären.

Das Umweltparadigma

In diesem Paradigma wird die aus isolierten Individuen bestehende Gesellschaft als die soziale Umwelt dieser Individuen betrachtet. Dieses Paradigma beruht auf dem in der Biologie entstandenen Organismus – Umwelt – Paradigma. Danach existiert das menschliche Individuum wie alle Lebewesen in einer bestimmten Umwelt, der es sich angepasst hat und in der es sich in einer bestimmten Weise verhält.

Das Umweltparadigma tritt in verschiedenen Formen auf. Die Umwelt wird als biotische, soziale und dualistisch als biosoziale (sowohl biotische als auch soziale) Umwelt gefasst. Die soziale Umwelt besteht aus den anderen Menschen und aus der Welt der (materiellen und geistigen) Kultur. Weitere Unterschiede bestehen in der Auffassung der Stellung des Individuums in der Umwelt. Oft wird ein Primat von Individuum oder Umwelt postuliert.

Dieses Erklärungsprinzip tritt vor allem in der Soziologie und der Sozialpsychologie auf.

Allen dem Umweltparadigma entspringenden Betrachtungsweisen ist gemeinsam, dass sie die menschliche Gesellschaft aus den Individuen erklären wollen. Menschliche Gesellschaft entsteht durch irgend eine Art von Gesellschaftsvertrag zwischen den Individuen. Wenn man nur wüsste, wie die menschlichen Individuen „funktionieren“, dann verstünde man auch, wie die Gesellschaft „funktioniert“.
Eine charakteristische Folgerung aus diesem Paradigma ist die Idee, die Gesellschaft durch Erziehung des Nachwuchses verändern zu können. Beliebige Ereignisse, die einen Mangel unserer Gesellschaft aufdecken, rufen „Fachleute“ auf den Plan, die Schule und Familie verantwortlich machen wollen und die mit Vorschlägen aufwarten, wie das Übel bereits im Kindergarten bekämpft werden kann.
Verbreitet ist dieses Paradigma in psychologischen pädagogischen Konzepten der „Sozialisation“, die als Anpassung an gesellschaftliche Regeln und Normen aufgefasst wird.

Das Gleichartigkeitsparadigma

In dieser Denkweise werden als das „Wesen“, die „Natur“ des Menschen die Eigenschaften angesehen, die alle Menschen miteinander gemeinsam haben. Dabei bleibt meist unreflektiert, welche Menschen in die Kategorie „Mensch“ aufgenommen werden sollen. Sollen alle Arten der biologischen Gattung „Homo“ (= Mensch) aufgenommen werden, also beispielsweise auch Homo erectus oder nur die Art Homo sapiens, und soll dann der Neandertaler einbezogen sein? Ist das Wesen des Menschen das, was wir mit den frühen Menschen oder nur das, was wir mit dem Neandertaler gemeinsam habent? Mit Sicherheit lassen sich für alle möglichen Festlegungen des Begriffsumfangs „Mensch“ gemeinsame Merkmale finden, aber haben wir damit auch das Wesen des Menschen schlechthin verstanden?

Das Ergebnis dieses Herangehens ist folgerichtig das Paradigma von der Gleichartigkeit der Menschen, ihrer Wesensgleichheit. Es ist wie bei einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Indem danach gesucht wird, worin sich alle Menschen gleichen, kann natürlich nur herauskommen, dass alle Menschen gleich sind.
Das Bemühen, die allgemeinen Merkmale eines Gegenstandes aufzufinden, führt bei sich entwickelnden Gegenständen folgerichtig dazu, dass die Gemeinsamkeiten von primitiven und entwickelten Gegenständen herausgearbeitet werden. Das aber hat zur Folge, dass gerade die Spezifik des entwickelten Gegenstandes verloren geht; denn gemeinsam kann so verschiedenen Gegenständen nur das sein, was bereits bei den primitiven Formen gegeben ist. Die entwickelten Eigenschaften fallen aus dem Begriff heraus.

Charakteristisch für dieses Paradigma ist also, dass das „Wesen“, die „Natur“ des Menschen ahistorisch als unveränderlich angesehen wird, das seit der Entstehung des Menschen, des menschlichen Individuums  unverändert geblieben ist. Verändert haben sich die Umwelt des Menschen, die Natur, die ihn umgibt  und die Kultur, in der er lebt. Er selbst, sein Wesen haben diese Veränderungen unverändert überstanden.

Eine typische Anwendung dieses Prinzips findet in der Alltagserkenntnis statt:
Wenn von einer –meist negativ - auffälligen Handlungsweise die Rede ist, heißt es oft: „So ist der Mensch eben".
Das erklärt nicht nur fremdes, sondern entschuldigt ggf. auch eigenes Verhalten.

In der evolutionären Erkenntnistheorie werden schließlich so schnelle Veränderungen der Kultur postuliert, dass das menschliche Individuum sich schließlich nicht mehr an seine Kultur anpassen kann.

Ein neues Paradigma: das Sozialparadigma

Die Grundidee eines neuen Paradigmas muss in der Erkenntnis bestehen, dass der Mensch, das menschliche Individuum nur in Gesellschaft existieren kann. Obwohl diese Erkenntnis wohl so alt wie das Nachdenken über den Menschen und fast schon trivial ist, wurde sie noch nie als grundlegendes Paradigma einer umfassenden Theorie des Menschen gemacht. Es gibt zwar immer wieder Formulierungen wie die vom Individuum als Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse (Marx, Thesen über Feuerbach) oder die von der gesellschaftlichen Natur des Menschen (Holzkamp), aber diese kommen nicht über den Status einer Metapher hinaus.

Auch die Kritische Psychologie bleibt im solipsistischen Paradigma. Das hängt mit ihrem Gegenstand – der Psyche – zusammen, die eine native Eigenschaft des Individuums ist. Auch für die kritische Psychologie ist charakteristisch, dass die Eigenschaften der Gesellschaft aus den Eigenschaften des Individuums abgeleitet werden.

 In einem neuen Paradigma muss als nicht weiter zerlegbare Grundeinheit der Kategorie ’Mensch nicht das menschliche Individuum angesehen werden, das dann die Gesellschaft bildet, sondern die menschliche Gesellschaft, welche die Individuen als ihre Mitglieder hervorbringt.

Das erkenntnistheoretische Problem, das in diesem Vorgehen steckt, ist der Umgang mit dem Teil – Ganzes Problem. Beim reduktionistischen Vorgehen wird das Ganze aus den Eigenschaften der Teile erklärt und das Ganze so auf die Teile reduziert.
Daran ändert sich auch nichts, wenn man die Eigenschaften der Teile als vom Ganzen bestimmt deklariert. Diese Zuschreibung bleibt ohne Inhalt, solange nicht das Ganze dargestellt ist. Solange bleibt auch unklar, wie das Ganze die Eigenschaften der Teile bestimmt. Da hilft auch kein „Wechsel der Analyseebene“ (Holzkamp), solange der Analysegegenstand unverändert das Individuum bleibt.
Dieses erkenntnistheoretische Problem ist darin begründet, dass die Eigenschaften eines Ganzen auf keine Weise aus den Teilen abgeleitet werden können. Der zu vollziehende gedankliche Übergang ist nicht der Übergang von den Teilen zu Ganzen sondern der umgekehrte, die Teile sind aus dem Ganzen zu erklären. Beim Wechsel der Analyseebene verändert sich das was erklärt wird und das, was erklärt. Nicht das Ganze muss erklärt werden, sondern die Teile. Die Frage ist nicht, wie die Teile zum Ganzen werden, sondern wie das Ganze zu seinen Teilen kommt.

Es ist hier nicht der Ort, dieses Problem prinzipiell zu lösen. Indem ich aber mit der Gesellschaft anfange, verhindere ich, dass ich überhaupt erst in die Not gerate, das Ganze aus seinen Teilen erklären zu müssen. So muss ich an keiner Stelle das Ganze aus den Teilen erklären, sondern erkläre immer die Teile als Teile eines Ganzen erklärt.

Seine heuristische Kraft gewinnt das solipsistische Paradigma aus der darwinistischen Evolutionstheorie. Sie besagt, dass sich der Mensch, das menschliche Individuum, aus menschaffenähnlichen Vorfahren entwickelt hat. Aus diesen auf biotischem Wege entstandenen menschlichen Individuen hat sich dann die menschliche Gesellschaft entwickelt.

Das Sozialparadigma geht dagegen davon aus, dass sich die menschliche Gesellschaft aus den Sozietäten unserer menschenaffenähnlichen Vorfahren entwickelt hat. Die sich dabei vollziehenden Veränderungen der Sozietät sind die Bedingungen, unter denen sich die Entwicklung ihrer Teile, der Individuen vollzogen haben.
Das dabei Vorgänge wie Mutation und Auslese eine Rolle spielen, bleibt unbestritten. Die Faktoren, welche die individuelle Auslese steuern, sind aber nicht Umweltfaktoren, sondern die Anforderungen des Zusammenlebens in der Sozietät. Die Entwicklung des Ganzen erklärt die Entwicklung der Teile.
Das darwinistische Paradigma der Evolution ist im Prinzip auch solipsistisch, Population und Art sind nur Mengen gleichartiger Individuen, die im Durchschnitt aufgehen. Population und Art erklären sich aus den Individuen, nicht umgekehrt. Deshalb ist dieses Paradigma nicht dazu geeignet, die Herausbildung der menschlichen Gesellschaft zu erklären.

Der Begriff der Gesellschaft

Der so entwickelte Gesellschaftsbegriff ist nativ ein systemtheoretischer Begriff, denn er abstrahiert von der stofflichen Beschaffenheit des abgebildeten Gegenstandes, von seinen Teilen. Nur so kann eine Gesellschaft als Ganzes abgebildet werden, ohne sie aus Teilen herleiten zu müssen.
„Menschliche Gesellschaft“ meint also jede Form menschlichen Zusammenlebens, das auf mindestens ein gemeinsames Ziel gerichtet ist, das arbeitsteilig-kooperativ verfolgt wird  und deren Existenzzeit die Lebenszeit der einzelnen Mitglieder überdauert. Die Gesellschaft ist deshalb gleichgültig gegen die Individualität ihrer Mitglieder. Das macht diesen Begriff zu einem systemtheoretischen Begriff.

Systemtheoretische Begriffe zeichnen sich u.a. dadurch aus, dass sie von der konkreten stofflichen Beschaffenheit der abgebildeten Entitäten abstrahieren. Typisch ist z.B. der Begriff „Messglied“, für den es gleichgültig ist, ob es sich um ein Thermometer (und um welches) oder ein Tachometer usw. handelt.

Der Gesellschaftsbegriff hat zunächst den Charakter einer „Black box“. Als Begriff der menschlichen Gesellschaft muss er jedoch bereits als agierendes Subjekt, nicht aber als reagierendes System angelegt werden. Dieses Konstrukt wird aber nicht ad hoc konstruiert, sondern als Weiterentwicklung des Begriffs der nichtmenschlichen Sozietät, also eines Ganzen, dessen Funktionsweise als bekannt angenommen werden kann.

Die zuerst zu lösende Grundfrage muss sein, was tut die Gesellschaft von sich aus, wie agiert sie, und wie unterscheiden sich diese menschlichen Aktionen von denen nichtmenschlicher Sozietäten. Erst von hier aus kann die Frage gestellt werden, über welche Eigenschaften die Individuen verfügen müssen, die diese menschliche Gesellschaft bilden.

Die Beziehung der Individuum zu ihrer Gesellschaft ist die Mitgliedschaft. Die Individuen sind Mitglieder der Gesellschaft. Ihre Eigenschaften – ihre Rechte und Pflichten – erhalten sie durch die Gesellschaft. Von anderen Eigenschaften wie der substanziellen Beschaffenheit der Individuen von im systemtheoretischen Begriff abstrahiert.
Die Kategorien „Gesellschaft“ und „Mitglied“ sind Glieder einer Relation und können nicht isoliert voneinander gedacht werden. Eine Gesellschaft ohne Mitglieder ist ebenso undenkbar wie ein Mitglied ohne Gesellschaft.
Logisch gesehen ist die Relation der Mitgliedschaft eine Äquivalenzrelation, in der die Mitglieder die logischen Repräsentanten sind, welche die Gesellschaft als Äquivalenzklasse bilden. Jeder Repräsentant steht für die ganze Klasse, wie beispielsweise jedes Dreieck für alle Dreiecke steht, die diesem kongruent sind und in die Klasse der diesem kongruenten Dreiecke gehört.

Als theoretisches Konstrukt muss dieser systemtheoretische Begriff der Gesellschaft noch keinen empirischen Inhalt besitzen. Er bekommt einen empirischen Inhalt, indem der Terminus „Gesellschaft“ zur Bezeichnung realer menschlicher Gesellschaften benutzt wird, dabei werden der Realität die Eigenschaften zugeschrieben, die im theoretischen Begriff konstruiert wurden.
In dieser Weise verwendet wird der Begriff der Gesellschaft zum systemtheoretischen Erklärungsprinzip, mit dem der Gegenstand „Gesellschaft“ beschrieben wird.

Zuschreibung ist kein deduktiver Schluss, und die Bildung empirischer Begriffe ist kein induktiver Schluss, denn es geht nicht um die Wahrheit von Aussagen, sondern um den Umfang von Begriffen. Begriffe sind nicht wahr oder falsch, sondern nicht leer oder leer.

Die Anwendbarkeit des Erklärungsprinzips hängt davon ab, ob reale Gesellschaften diese Eigenschaften auch wirklich besitzen, ob die Zuschreibung also empirisch leer wird. Das ist aber eine andere Frage.
Ein empirischer Begriff der Gesellschaft wird auf anderem Wege gewonnen (konstruiert). Es werden reale Gesellschaften beobachtet. Die dabei ermittelten Eigenschaften werden verglichen und durch Abstraktion und Verallgemeinerung wird ein empirischer Begriff gewonnen.

Reale Gesellschaften

In der Realität begegnet uns die menschliche Gesellschaft in ihrer Totalität als Menschheit. Im praktischen Umgang der Menschen untereinander leben sie jedoch in verschiedenen Ethnien, Kulturen, Staaten u.a. Gemeinschaften zusammen. Diese sind einerseits in Verwandtschaftsgruppen wie Familien, Sippen usw. gegliedert. Andererseits bilden sie zur Organisation des gemeinsamen Lebens mehr oder weniger lange existierende fakultative Gruppen, in denen sich ebenfalls Beziehungen der Mitgliedschaft herausbilden.

Alle diese Gemeinschaften können mit dem Sozialparadigma als Erklärungsprinzip beschrieben werden.
In sozilogischen, sozialpsychologischen und pädagogischen Untersuchungen werden vor allem fakultative Gruppen mit verschiedenen Termini bezeichnet wie:

v  Clique
v 
Crew
v 
Equipe
v 
Kollektiv
v 
Schar
v 
Team usw.

Sie werden in spezieller Weise oft ad hoc definiert, manche sind auch ideologisch belastet.
Zur Bezeichnung realer Gemeinschaften von Menschen mit einem gemeinsamen Ziel, die dieses Ziel arbeitsteilig-kooperativ verfolgen benutze ich den Ausdruck „kollektiv“. Kollektive Tätigkeit ist also als arbeitsteilig-kooperativ definiert. Die Mitglieder des Kollektivs sind seine Repräsentanten.
Auch dieser Begriff des Kollektivs ist ein systemtheoretischer Begriff. Er wurde nicht durch Beobachtung realer Kollektive gewonnen, sondern als Konstrukt aus dem Konstrukt „Menschliche Gesellschaft“ abgeleitet. Er schreibt Merkmale empirisch prüfbar Gruppen von Menschen zu und kann so widerspruchsfrei auch in empirischen Sinne verwendet werden.
Die jeweilige Verwendungsweise geht gewöhnlich aus dem Kontext hervor, Wo es angebracht scheint, wird die gemeinte Bedeutung durch Attribute wie „ideal“ oder „real“ präzisiert.

 

Inhalt:
Traditionelle Paradigmen
   Das Teil-Ganzes-Paradigma
   Das Umweltparadigma
   Das Gleichartigkeitsparadigma
Das Sozialparadigma
   Der Begriff der Gesellschaft
   Reale Gesellschaften

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Zitiertes:

"Das Zerrbild vom isolierten Geist
Ich nenne, und das ist nur halb im Scherz gemeint, die Evolutionsgeschichte des Menschen gern den »Großen Ausbruch der Hominiden aus dem Nervensystem«. Wir unterscheiden uns von den Menschenaffen vor allem durch den Faktor der Kultur oder, genauer gesagt, der symbolischen Kultur. Er ist größtenteils außerhalb des individuellen Gehirns anzusiedeln. Eine Kultur verteilt die kognitive Aktivität auf viele Gehirne und prägt das Innenleben derer, die ihr angehören. Dennoch untersuchen die Kognitionswissenschaften den Geist mit Methoden, die eigentlich voraussetzen, dass er jeweils auf das einzelne Gehirn eingrenzbar sei. Die Kogni­tionstheorie bezieht den Faktor Kultur in der Regel nicht in ihre Überlegungen ein oder fasst ihn allenfalls als einen Teil der Umwelt des Individuums auf. Infolgedessen tendieren die Kognitionswissenschaften dazu, den Geist isoliert zu betrachten und das kognitive System als ein in sich geschlossenes, monadenhaftes Gebilde zu behandeln. Cartesianer, Behavioristen und Kognitivisten stellen sich den Geist letztlich als eine nach außen hin abgeschlossene Entität vor." (Merlin Donald, S. 160f.)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zitiertes::
„Der menschliche Geist, der durch begriffliches Denken, syntaktische Sprache und der damit entstehenden Vererbbarkeit des traditionellen Wissens geschaffen wurde, entwickelt sich um ein Vielfaches schneller als die Seele. Infolgedessen verändert der Mensch die eigene Umwelt sehr häufig zu ihren und seinen Ungunsten. Im Augenblick ist er im Begriffe, die Lebensgemeinschaft der Erde, in der und von der er lebt, zu vernichten und damit Selbstmord zu begehen.
Die Geschwindigkeit, mit der der menschliche Geist sich verändert und mit der der Mensch durch seine Technologie die eigene Umwelt zu etwas völlig anderem macht, als sie eben noch war, ist so groß, daß der Gang der stammesgeschichtlichen Entwicklung im Vergleich zu ihr praktisch stillsteht. Die Menschenseele ist seit dem Entstehen menschlicher Kultur im wesentlichen die gleiche geblieben; es ist nicht erstaunlich, daß die Kultur sehr häufig unerfüllbare Ansprüche an sie stellt.“ (Lorenz, "Der Abbau der Menschlichen S.417)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Angemerkt:
Als politische Forderung manifestiert sich diese Beziehung in der Forderung nach der Gleichheit aller Menschen, wie sie im Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formuliert ist:
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“

 

 

 

 


Zitiertes:
"Was ist denn ein Kollektiv? Man stellt sich ein Kollektiv nicht richtig vor, wenn man bloß an eine Summe einzelner Individuen denkt. Das Kollektiv ist ein sozialer, lebendiger Organis­mus23. Es ist deshalb ein Organismus, weil es Organe besitzt: Es gibt Vollmachten und Verantwortlichkeit, wechselseitige Beziehungen und ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis. Wenn dies alles fehlt, dann ist es kein Kollektiv; dann ist es einfach ein Haufen oder irgendeine Menschenansammlung." (Makarenko, S.239)

"Ein Kollektiv, das aus Kindern der gleichen Altersstufe zusammen­gesetzt ist, hat immer das Bestreben, sich innerhalb der Interessen dieses Alters abzuschließen und sich ... abzusondern. ... Wenn mein Kollektiv jedoch verschiedene Altersstufen aufweist, dann sind auch die Neigungen verschieden; das Leben des Grundkollektivs gestaltet sich mannigfaltiger, es verlangt von seinen einzelnen Mitgliedern, von jung und alt, größere Anstrengungen, stellt an die einen wie an die anderen höhere Anforderungen und hat somit eine größere erzieherische Wirkung.
Ein solches Kollektiv, das aus verschiedenen Altersklassen bestand, organisierte ich in letzter Zeit nach dem Prinzip ´Jeder, mit wem er will.´" (Makarenko, S.170)

 

 

Weiterführende Links:
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

Weiterführende Literatur:
Donald, Merlin (2008): Triumph des Bewusstseins * Die Evolution des menschlichen Geistes, Klett - Cotta Verlagsgemeinschaft, Stuttgart
Holzkamp, Klaus (1983): Grundlegung der Psychologie, Campus Verlag, Frankfurt-New York.
Lorenz, Konrad (1988): Die Rückseite des Spiegels: Der Abbau des Menschlichen, Piper & Co.Verlag, München, Zürich,
Makarenko, A.S. (1959): Werke * Band V, Volk und Wissen Volkseigener Verlag, Berlin.
 

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© Dr. G. Litsche 2010
Letzte Bearbeitung: 07.10.2012