Zuschreibung
Das
↑Erkennen
der Welt ist immer darauf gerichtet, die Tätigkeit des Menschen zu
steuern. Die Steuerung der Tätigkeit ist die Grundfunktion der Erkenntnis.
Um diese Funktion zu erfüllen, muss der Mensch zunächst die verschiedenen
Gegenstände der Welt identifizieren, unterscheiden und
ordnen. In dem Maße, in dem ihm das gelingt, kann er sich in der Welt orientieren. Im Chaos ist keine zielstrebige Tätigkeit möglich.
Das spezifisch menschliche Instrument der Erkenntnis ist das System der
sprachlichen und anderen Zeichen seiner Kultur, mit dem er sich ein
geordnetes Bild seiner Welt aneignet. Er versteht seine Welt in dem Maße,
in dem es ihm gelingt, die Gegenstände und Ereignisse dieser Welt, zu
denen er in tätige Beziehung tritt, in dieses Bild einzuordnen. Er
erkennt die Welt.
Gewöhnlich wird die Formulierung „... die Welt erkennen...“ nur zur
Bezeichnung des Schaffens neuer Erkenntnisse verwendet. Nur dieses wird
als i.e.S. „schöpferisch verstanden. Diese Auffassung des
Erkenntnisprozesses unterstellt aber ein Paradigma, in dem das Subjekt des
Erkennens das Individuum ist. Geht man dagegen von einem
gesellschaftlichen Erkenntnissubjekt ()
aus, versteht man, dass das Schaffen neuer Erkenntnis
↑Forschen und
↑Lernen umfasst und dass ein
Erkenntnisfortschritt nur durch arbeitsteiliges Zusammenwirken beider
Formen individuellen Erkennens erfolgt.
Eine zweite Verkürzung des Erkenntnisprozesses besteht darin, dass
„Erkennen“ auf die Erzeugung von Erkenntnis beschränkt wird. In dieser
Sicht hat Erkennen keine Funktion und ist letztlich Selbstzweck. Bezieht
man aber die Funktion in den Begriff des Erkennens ein, versteht man, dass
die gegebene Erkenntnis auch Instrument des Erkennens,
Erkenntnisapparat ist, der beim Erkennen angewendet wird. Diese
Bedeutung hat „Erkennen“ beispielsweise in den Formulierungen „die
Qualität von gutem Brot erkennen“ oder „einen Steinpilz erkennen“. Dabei
wird vorausgesetzt, dass „Brot“ und „Steinpilz“ gesellschaftliche
Erkenntnisse (ideelle Abbilder) ausdrücken, die als Vorlage (Muster) der
Wahrnehmung dienen.
Beim Forschen ist die bestehende gesellschaftliche Erkenntnis nicht nur
der Ausgangspunkt des Forschens, sondern sie bestimmt als Paradigma,
Erklärungsprinzip usw. () wesentliche Aspekte des Forschungsprozesses.
Die spezifischen Funktionen der gesellschaftlichen Erkenntnis beim Lernen
habe ich in meiner Dissertation A () untersucht. Beim Forschen und Lernen
handelt es sich um Operationen, die auf die Schaffung von
gesellschaftlicher Erkenntnis gerichtet sind. Das Erkennen wird als
eigenständige Tätigkeit untersucht. Beim Lernen und Forschen ist die
Erkenntnis Ziel und Mittel des Erkennens.
Anders ist das, wenn Erkenntnis angewendet wird. Dann ist Erkennen
Komponente einer anderen Tätigkeit ist, deren Steuerung sie dient. Die
Tätigkeit richtet nicht auf die Erkenntnis, nicht sie ist Ziel der
Tätigkeit. Die gesellschaftliche Erkenntnis ist nur Mittel einer
Tätigkeit, das in der Tätigkeit angewendet wird. Das Erkennen ist
↑Operation dieser
Tätigkeit.
Erst wenn die Erkenntnis der agierenden Subjekte es nicht mehr ermöglicht,
ihre Tätigkeit oder ihre Handlungen zu steuern, muss sich die Tätigkeit
auf die Erkenntnis selbst richten. Das Subjekt muss lernen, d.h. sich die
gesellschaftliche Erkenntnis vollständiger aneignen. Wenn auch das nicht
ausreicht, muss es forschen, d.h. die gesellschaftliche Erkenntnis weiter
entwickeln. Lernen und Forschen werden in dieser Sicht zu Fällen des
Erkennens, die dann eintreten, wenn die vorhandene Erkenntnis sich als
unvollständig erweist und nicht mehr die Steuerung der Aktionen des
Subjekts ermöglicht.
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Der umgangssprachlichen Vorstellung über das Erkennen
liegt gewöhnlich ein ↑naiv-empiristisches Konzept zugrunde. Dieser Umstand
bedingt, dass die Tätigkeit des Wahrnehmens und Beschreibens in diesem
empiristischen Sinne verstanden wird. Der Gegenstand bestimmt, was
wahrgenommen und beschrieben wird. ↑Tatsächlich
aber werden bei der Beschreibung eines Gegenstandes diesem die
wahrgenommenen Eigenschaften mittels der Sprache zugeschrieben.
Zuschreibung ist eine spezifische geistige Leistung. Wenn man auf einen
Gegenstand zeigt und sagt: „Dies ist ein X.“, dann will man damit sagen,
dass dieser Gegenstand eben die Eigenschaften aufweist, die in der eigenen
Erkenntnis mit dem Terminus „X“ verbunden sind. Diese geistige Leistung
nenne ich „Zuschreibung“. Sie wird in psychologischen und
linguistischen Arbeiten in unterschiedlicher Terminologie dargestellt.
Der Konstruktivismus hat viel zum Verständnis der Zuschreibung von
Erkenntnissen zu Konstrukten beigetragen. Da in seinem Denksystem aber
keine Beziehung zwischen Erkenntnis und Realität besteht, kann auch keine
Zuschreibung von Erkenntnis und Realität dargestellt werden. Für den
Konstruktivismus ist Zuschreibung nur Zuschreibung zu einem Konstrukt,
nicht zur Realität. Da Erkenntnisse im konstruktivistischen Denksystem
auch keine Abbilder der Realität sind, kann im Konstruktivismus auch keine
Beziehung zwischen Zuschreibung und Abbildung hergestellt werden. Es
bleibt bei der im Grunde redundanten Feststellung, dass Konstrukte durch
Zuschreibung von Eigenschaften gebildet werden.
Betrachtet man die Sache dagegen subjekttheoretisch, ist Zuschreibung eine
Leistung des Subjekts. Durch die Zuschreibung stellt das Subjekt eine
Beziehung zwischen seinen Konstrukten und der Realität her, die es ihm
ermöglicht, seine Tätigkeit zu steuern und seine Konstrukte zu bewerten.
Das Paradigma, nach dem nichts in unseren Sinnen ist, was nicht zuvor in
unserem Verstand war, könnte auch als „Zuschreibungsparadigma“
bezeichnet werden. Die Analyse dieses Paradigmas uns seine weitere
Ausarbeitung ist wesentlicher Bestandteil einer subjekttheoretischen
Theorie der Erkenntnis.