Subjekte

Menschen können nur als Menschen sein, indem sie einander Subjekte sind.

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Wie Kultur wird
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Nichts ist in unseren Sinnen, was nicht zuvor in unserem Verstand war.

Das Werden der Kultur

Die Umwandlung gegenständlicher Träger psychischer Entitäten in Gegenstände einer Kultur ist in dem individualistischen Erklärungsschema, das der Psychologie als Individualwissenschaft zugrunde, liegt nicht darstellbar. Die Beschreibung von Kultur erfordert das Soziale als Erklärungsprinzip. Soziale Beziehungen haben bereits bei den vormenschlichen Hominiden eine lange Evolution durchlaufen und einen hohen Entwicklungsstand erreicht. Die heutigen Menschenaffen haben eine Reihe psychischer und sozialer Eigenschaften entwickelt, die obgleich noch biologisch, der Herausbildung von Kultur vorausgesetzt sind und als „vorkulturell“ angesehen werden können. Es gilt als empirisch hinreichend gesichert, dass die nachfolgend aufgeführten vorkulturellen Eigenschaften bei bereits den rezenten Menschenaffen zukommen:

·         Die Individuen leben in dauerhaften (generationsübergreifenden) Verbänden („Kommunitäten“)
·        
Sie sind zur Wahrnehmung (d.h. Vergegenständlichung) befähigt.
·        
Die Mitglieder eines Verbandes kennen (wiedererkennen) einander.
·        
Sie verfügen über ein Ich-Bewusstsein, dass auf einem Selbstbild fußt, das auf multiplen
      Wahrnehmungen beruht (Spiegeltest)
·        
Die Mitglieder können individuelle (nicht genetisch fixierte) Verhaltensweisen imitieren.
·        
Sie verwenden ad hoc individuell zugerichtete Werkzeuge.
·        
Imitierte Verhaltensweisen führen in dauerhaften Verbänden zu deren Tradierung.
·        
Sie sind zu arbeitsteiliger Kooperation fähig.

Diese Eigenschaften wurden bei den heute lebenden Menschenaffen (den nichtmenschlichen Hominiden), insbesondere bei Schimpansen beobachtet. Sie leben in besonders engen sozialen Gemeinschaften, die auch für die Vorfahren der Menschen begründet angenommen werden können. In der Verhaltensbiologie werden solche geschlossenen, individualisierten Gruppen mit spezifischen Traditionen auch als „community“ bezeichnet, was bei der Beschreibung von Schimpansengesellschaften gelegentlich als „Kommunität“ ins Deutsche übersetzt wird.
Eine auf Kulturgegenständen basierende Kultur konnte bei Menschenaffen bisher nicht nachgewiesen werden.
Wenn manche Wissenschaftler beispielsweise Schimpansen trotzdem eine Kultur zuschreiben, dann beruht das darauf, dass sie einen reduzierten Kulturbegriff verwenden. Dieser Kulturbegriff enthält nur die nur die Merkmale Tradition und Nachahmung, nicht aber das Vorhandensein materieller Kulturgegenstände, materieller Träger von Traditionen.
Diesem Sprachgebrauch folge ich nicht, denn er löst das Problem nach der Entstehung der menschlichen Kultur nicht, er eliminiert es nur. Tradierung und Imitation gehören zu den biologischen Voraussetzungen der Entstehung von menschlicher Kultur, machen aber noch nicht das Wesen menschlicher Kultur aus.
Sie sind gemeinsam mit den oben genannten Eigenschaften aber hinreichend, um die natürliche Herausbildung der menschlichen Kultur zu verstehen. Da unmittelbar auf das Menschenaffenstadium folgende Entwicklungsstufen nicht durch Funde belegt sind, können sie nur theoretisch rekonstruiert werden. Sie müssen also als hypothetische missing links beschrieben werden.
Kultur basiert zweifelsfrei auf der Tradierung individueller Verhaltensweisen. Übereinstimmung besteht im Allgemeinen auch in der Auffassung, dass es zwei Formen der Tradierung gibt, Tradierung, die an Gegenstände (Symbole, Zeichen) gebunden ist und „freie“ Tradierung, die in der fortgesetzten Imitation von Verhaltensweisen durch die Nachkommen besteht. Ob man bereits die freie Tradierung als „Kultur“ bezeichnen soll oder erst die an Gegenstände gebundene, ist letztlich eine Frage der Übereinkunft. Sollte man sich dazu entschließen, würde allein das Wort "Kultur" nicht ausreichen, um menschliche Kultur zu bezeichnen, es müsste immer "menschliche Kultur" gesagt werden, wenn diese gemeint ist.
Die menschliche Kultur, und das ist Konsens, umfasst vor allem die Tradierung von an Gegenstände gebundenen Verhaltensweisen. Unabhängig davon, welcher Kulturbegriff präferiert wird, das zu lösende Problem besteht immer darin zu verstehen, wie Gegenstände der Natur zu Kulturgegenständen werden, wie sie zu Symbolen und Zeichen werden und Sinn und Bedeutung erhalten. In diesem Zusammenhang erhalten die Termini „Sinn“ und „Bedeutung“ () einen spezifischen Inhalt.
Die Termini Sinn" und "Bedeutung" bezeichnen zunächst eine reale Beziehung zwischen realen Gegenständen. "Sinn" bezeichnet den Beitrag, den ein Gegenstand oder eine individuelle Aktion  zur Selbsterhaltung eines Individuums leistet, tatsächlich leistet. "Bedeutung" bezeichnet den Beitrag, den ein Gegenstand oder eine individuelle Aktion, die "Operation", zur Erhaltung der Gemeinschaft, der Gesellschaft, leistet, tatsächlich leistet. Sinn und Bedeutung sind folglich relative Eigenschaften, die Operationen, Handlungen und Tätigkeiten in Bezug auf die Bedürfnisse zukommen.
Sinn und Bedeutung sind zwar relative, aber reale Eigenschaften, die der Realität zukommen, unabhängig davon, ob und wie sie in der Psyche von Teilnehmern oder Beobachtern abgebildet werden.

Der Eine und die Anderen

Im Zusammenleben von Individuen in Kommunitäten führt zu einer Besonderheit der  Wahrnehmung der jeweils eigenen Beziehung zu den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft. Da zumindest bei Schimpansen auch ein Selbstbild angenommen werden kann, vermögen sie zwischen „ich“ und den „Anderen“ zu unterscheiden. In meiner 3. Person-Perspektive des Beobachters, der jedes einzelne ichbewusste Individuum beschreiben will, benutze ich die Termini der „Eine“ und die „Anderen“. Jedes Mitglied einer Schimpansenkommunität ist Einer, ein "Ich", das zu allen Anderen in Beziehung steht. Jedes Mitglied ist aber auch ein Anderer, zu dem die anderen jeweils Einen in Beziehung stehen. Diese Unterscheidung der beiden Positionen, welche die jedes Mitglied in einer Kommunität einnehmen, ermöglicht erst die Beschreibung der sozialen Aspekte der Aktionen der Individuen.
Betrachten wir zuerst die Situation, in der sich die Vergegenständlichung als individuelle Aktion im gesellschaftlichen Umfeld einer Kommunität mit den genannten Eigenschaften vollzieht. Jedes Mitglied vergegenständlicht seine individuellen Bedürfnisse und Ziele eigenständig in seinem Gegenstand. Sollte es der Zufall wollen, das zwei Individuen ihr Bedürfnis im gleichen (identisch einen) Objekt vergegenständlichen, werden sie zu Antagonisten, die sich das Futter streitig machen, wie man leicht bei jeder Fütterung im Affenkäfig beobachten kann.
Nur in besonderen Fällen (z.B. Mutter – Kind, Partnerwerbung) wird der Gegenstand geteilt oder verschenkt. In diesen Fällen muss zumindest ein Individuum über die Fähigkeit verfügen, ein Bild des Anderen, ein Bild des Artgenossen zu konstruieren. Er muss also über eine zumindest minimale "theory of mind" verfügen.

 Das ermöglicht es ihm, ein Objekt als Gegenstand des Artgenossen und schließlich als gemeinsamen Gegenstand zu identifizieren.
Ein Objekt, das Gegenstand des Bedürfnisses ist verschiedener Individuen ist, kann von keinem Individuum in Besitz genommen werden. Es kann nur ein Bedürfnis befriedigt werden. Ein gemeinsamer Gegenstand muss geteilt werden, um das jeweils individuelle Bedürfnis zu befriedigen. Unter bestimmten Bedingungen jedoch (hinreichende Größe der Gegenstandes, Umstände, welche die gleichzeitige Ausführung von Operationen und damit Kooperation erfordern) kann die Tätigkeit arbeitsteilig ausgeführt werden. In diesem speziellen Fall werden die psychischen Bilder aller Beteiligten dem gemeinsamen Gegenstand vergegenständlicht. Dadurch werden auch die psychischen Bilder der Beteiligten identifiziert, es werden gleiche Bilder des gemeinsamen Gegenstandes erzeugt. So erzeugen verschiedene Individuen identische Bilder eines Gegenstandes. Jeder macht (konstruiert) sich autonom sein Bild und alle Bilder sind gleich.
Dieses kollektive Bild kann aber von keinem Anderen angeeignet (entgegenständlicht) werden, weil der Gegenstand nur für die Zeit der gemeinsamen arbeitsteiligen Tätigkeit existiert, danach wird er verteilt und verzehrt. Aneignung (Entgegenständlichung) erfordert also die dauerhafte Existenz des Gegenstandes.
Dauerhafte Existenz von Gegenständen ist bei zugerichteten Werkzeugen gegeben, die aus dauerhaftem Material gefertigt sind. Sie werden in der Tätigkeit nicht verbraucht und zerstört.
Solange Werkzeuge jedoch nur für die individuelle Tätigkeit verfertigt werden, können auch Mitglieder einer Kommunität kein gemeinsames und identisches Bild dieses Werkzeugs erzeugen. Nur für den Einen ist es Vergegenständlichung seines Bedürfnisses, für die Anderen ist es fremder Gegenstand, der nicht von ihnen genutzt werden kann.
Das ist erst möglich, wenn das dauerhafte zugerichtete Werkzeug von dem Einen in der arbeitsteiligen kollektiven Tätigkeit verwendet wird. Dann können alle Mitglieder der Gemeinschaft dieses Werkzeug in Bezug auf dessen soziale Funktion abbilden, die für alle Individuen die gleiche ist. Es erlangt in der Wahrnehmung durch die Anderen ein gesellschaftliche Bedeutung, denn es dient der Befriedigung des gemeinsamen Bedürfnisses. Nur der Eine hat als Schöpfer des Werkzeugs noch eine zusätzliche individuelle Beziehung zu seinem Werkzeug.

Indem das Werkzeug des Einen von diesem bei den arbeitsteilig ausgeführten Tätigkeiten der Gemeinschaft benutzt wird, wird auch der soziale Bezug des Werkzeugs des Einen von den Anderen wahrgenommen. Sobald nun der Eine stirbt oder den Verband auf andere Weise ohne sein Werkzeug verlässt, erhält die gesellschaftliche Bedeutung des weiter existierenden Werkzeugs in der Psyche der Anderen eine eigenständige Präsenz, die in dem nun weiter existierenden Werkzeug vergegenständlicht ist. Diese Vergegenständlichung ist keine individuelle Leistung des einen verstorbenen Schöpfers des Werkzeugs, sondern eine soziale Leistung der Anderen, der Zurückbleibenden, die seinem Werkzeug ihr Bild der sozialen Funktion zuweisen. Das Werkzeug ist nun nicht mehr gegenständlicher Träger des psychischen Bildes seines verstorbenen Schöpfers, des Einen, sondern gegenständlicher Träger des gemeinsamen, gleichen psychischen Bildes der Anderen.
Die vergegenständlichte soziale Funktion des Werkzeugs wird realisiert, sobald es von einem Anderen individuell angeeignet wird, indem dieser die in ihm vergegenständlichte gesellschaftliche Bedeutung entgegenständlicht (interiorisiert) und die im Werkzeug vergegenständlichte soziale Funktion in der gemeinsamen Tätigkeit ausübt. Die praktische Aneignung des Werkzeugs erfordert auch die „Aneignung“ der zur Handhabung des Werkzeugs erforderlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten Die Aneignung des Werkzeugs ist also mehr als das in Besitz nehmen.
Die Aneignung vergegenständlichter identischer psychischer Bilder ist die spezifische Form, in der Menschen individuelle Verhaltensweisen vergesellschaften und die vergesellschafteten Verhaltensweisen tradieren. In nichtmenschlichen Sozietäten tradiert ein Individuum die Verhaltensweise eines anderen Individuums. Eine Vergesellschaftung individueller Verhaltensweisen durch Vergegenständlichung eines gemeinsamen Bildes in einem gesellschaftlich bedeutsamen Werkzeugs findet nicht statt.
Die Bezeichnung dieser gegenständlichen, von Individuen unabhängigen Existenz sozialer Traditionen mit dem Terminus „Kultur“ ist mit den meisten Kulturbegriffen kompatibel.

Auch die individuelle Aneignung des Werkzeugs ist nur in gemeinsamer Tätigkeit denkbar. Ein frei verfügbares Werkzeug, dessen soziale Funktion den Mitgliedern eines Verbandes aus der Anschauung bekannt ist, kann einem Individuen zugeteilt werden. Durch diese Zuteilung des Werkzeugs wird dem Individuum auch die soziale Funktion in der geteilten kooperativen Tätigkeit zugeordnet, für die das Werkzeug geschaffen wurde. Das erfolgt, bevor die Tätigkeit beginnt Durch soziale Vergegenständlichung und individuelle Aneignung in sozialer Tätigkeit entsteht und erhält sich die Kultur. Der ursprüngliche Träger der Kultur ist das in gesellschaftlicher Tätigkeit verwendete Werkzeug. In der biologischen Abfolge der Generationen erhält das die Generationen überdauernde gesellschaftliche Werkzeug seine kulturelle Funktion. Diese Funktion entsteht durch die (natürliche) Trennung eines Werkzeugs von seinem Schöpfer in gemeinsamer Tätigkeit.  So wird es voen einem individuellen zu einem sozialen Werkzeug und erhält zu seiner technologischen auch neue kulturelle Funktionen. 

·         Die soziale Organisation der Tätigkeit, die Aufteilung der Operationen, kann nun geplant werden. Mit seinem Einsatz zu Planung der Arbeitsteilung (Prinzip „Verwechsle das Bäumchen!“) entsteht die organisatorische Funktion des sozialen Werkzeugs.
·        
Zu der dabei stattfindenden vorsprachlichen Kommunikation sind weder Zeichen noch Sprache erforderlich.Durch die mit der Planung verbundene Kommunikation erhält das Werkzeug auch eine kommunikative Funktion.
·        
Bei Planung und Kommunikation mittels Werkzeugen wird das Werkzeug noch nicht in seiner eigentlichen technologischen benutzt, sondern anstelle dieser Funktion. Damit erhält das Werkzeug seine Zeichenfunktion.

Mit der Aneignung der gesellschaftlichen Werkzeuge durch die Anderen wird auch die erste Form der Abstraktion  zumindest möglich, wenn nicht notwendig. Indem der Schöpfer und ursprüngliche Besitzer des Werkzeugs die Kommunität verlässt, ist nur noch das hinterlassene isolierte Werkzeug der Wahrnehmung durch die Anderen zugänglich. Hatten sie es bisher immer in Verbindung mit dem Besitzer, als dessen individuelles Kennzeichen wahrgenommen und die Funktion als Funktion eben des Besitzers, muss nun davon abstrahiert werden. Das Werkzeug nun muss abstrakt, als Werkzeug für die Operation wahrgenommen werden. Es ist nicht mehr Werkzeug eines Benutzers, sondern allgemeines Werkzeug. Die Abstraktion erweist sich so als geistige Leistung, die das Individuum nur in Gesellschaft hervorbringen kann. Abstraktion ist von Beginn an eine soziale Leistung des gesellschaftlichen Individuums.

 

 

 

 

Zitiertes:
„Eine Kultur des Menschen etwa umfasst Technologien genauso wie Heiratsbräuche, sie reicht von Esssitten bis hin zu Mythen oder Legenden. Tiere haben natürlich keine Erzählungen. Wie Verhaltensforscher gezeigt haben, können manche Tiere aber erlernte, also nicht genetisch bestimmte, Verhaltensmuster an spätere Generationen weitergeben, manche Vögel etwa Gesangsweisen. Aus biologischer Sicht stellt dies das grundlegende Kriterium für ein kulturelles Merkmal dar: Man erwirbt ein populationsspezifisches Verhalten, indem man es bei anderen beobachtet, und gibt es später seinerseits auf gleichem Wege weiter. In diesem schlichten Sinne haben auch Schimpansen sicherlich Kultur.“ ( & Boesch, 2001, S. 32)

 

 

 

Weiterführende Links:
Zwei meiner früheren Texte zum Werkzeugbegriff und zur Kollektivität des Erkenntnisprozesses

Weiterführende Literatur:
Whiten
, A. et al. (1999): Cultures in Chimpanzees. Nature, v.399, Seite 682 bis 685.
, Andrew & Boesch, Christophe (2001): Die Kultur der Schimpansen. Spektrum der Wissenschaft,Heidelberg, Seite 30 bis 39.
Boesch
, Christophe & Boesch-Achermann, Hedwige (2000): The Chimpanzees of the Tai Forest. Oxford University Press, Oxford.
Boesch, Christophe (1993): Aspects of transmission of tool-use in wild chimpanzees. In:Gibson, Kathleen R. & Ingold, Tim (1993): Tools Language and Cognition in Human Evolution, Seite 171 bis 184,
Tomasello, Michael (2002): Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main,

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© Dr. G. Litsche 2006
Letzte Bearbeitung: 12.01.2012