Subjekte

Menschen können nur als Menschen sein, indem sie einander Subjekte sind.

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Methodische Probleme
der Untersuchung des Erkenntnisprozesses der Menschheit

(1985)

Ein methodisches Problem, das bei der weiteren Untersuchung des menschlichen Er­kenntnisprozesses auftritt, charakterisierte Dieter Wittich wie folgt: „ Es ist prinzipiell nicht möglich, Erkenntnisse über einen Gegenstand, die vor seiner systematischen Fassung erreicht wurden, stets in ihrer vorgefundenen Gestalt in eine entsprechende systematische Darstellung zu übernehmen. “/1/ Richtung und Maß der Veränderung vorgefundener Erkennt­nisse über den zu systematisierenden Gegenstand werden unter anderen von dem jeweils angewendeten Systematisierungsgesichtspunkt bestimmt. Dieser erst hebt die Beliebigkeit der zu untersuchenden Eigenschaften des Gegenstandes auf./2/ Für die Systematisierung der Erkenntnisse über den menschlichen Erkenntnisprozess ist die Kategorie „Erkenntnisprozess der Menschheit“ ein solcher Systematisierungsgesichtspunkt.
Ein weiteres methodisches Problem bei der Untersuchung des menschlichen Erkenntnisprozesses, das bei der Untersuchung eines jeden Gegenstandes zu lösen ist, besteht in der Frage nach den kleinsten Elementen dieses Gegenstandes, d. h. jenen Elementen, die nicht mehr in noch kleinere Einheiten zerlegt werden dürfen, sollen sie nicht die Eigenschaften des eigentlich zu untersuchenden Gegenstandes verlieren. So sind beispielsweise die klein­sten Elemente/3/ von Wasser die Moleküle H20. Diese können natürlich weiter in Atome bzw. Ionen als kleinere Teile zerlegt werden. Dann aber haben wir kein Wasser mehr vor uns, und die Untersuchung von Wasserstoff- und Sauerstoffatomen bzw. Ionen ergibt unmittel­bar keine Erkenntnisse über die Eigenschaften des Wassers (auch wenn manche der dabei zu gewinnenden Erkenntnisse gewisse Eigenschaften des Wassers erklären können).
Dieses Problem stellt sich auch bei der Untersuchung des Erkenntnisprozesses der Mensch­heit. In dem Buch „Marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie“/4/ werden als die kleinsten Elemente des Erkenntnisprozesses der Menschheit die individuellen Erkenntnisprozesse gefasst. Die Bestimmung scheint so selbstverständlich zu sein, dass sie nirgendwo problema­tisiert wird. Wenn das im folgenden geschieht, dann von der oben zitierten Position Wittichs aus und in der Absicht, sie im Hinblick auf die Frage zu präzisieren, in welcher Weise die über den individuellen Erkenntnisprozess vorliegenden Erkenntnisse zu verändern sind, wenn individuelle Erkenntnisprozesse als Teile des Erkenntnisprozesses der Menschheit auftreten — ein Vorhaben, das erst durch den in der genannten Arbeit erreichten Stand der Ausarbeitung dieser Position ermöglicht, durch ihn aber auch provoziert wird.
Die Darstellung der Elemente des Erkenntnisprozesses erfolgt mittels folgender Frage­stellung: ,‚Welches sind die einfachen und allgemeinen Elemente, die jedem beliebigen Erkenntnisprozess . . notwendig und wesentlich eigen sind.?“/5/ Mit der Frage nach den Gemeinsamkeiten beliebiger Erkenntnisprozesse wird aber ganz offensichtlich die Spezifik verschiedener Erkenntnissubjekte eliminiert: Individuen, Kollektive, Klassen, öko­nomische Gesellschaftsformationen und schließlich die Menschheit werden so im Hinblick auf ihre Elemente als gleichartige Subjekte behandelt. Insbesondere werden auf diese Weise individuelle und gesellschaftliche (gemeinschaftliche) Erkenntnisprozesse gleichgesetzt. Es kann natürlich nicht bestritten werden, dass alle diese Erkenntnisprozesse und -subjekte gemeinsame Merkmale aufweisen; es muss aber gefragt werden, ob diese gemeinsamen Eigenschaften wesentliche Eigenschaften gesellschaftlicher Erkenntnisprozesse und damit wesentlich für den Erkenntnisprozess der Menschheit sind. Wasser, Wasserstoff und Sauer­stoff haben auch gemeinsame Eigenschaften, aber diese gemeinsamen Eigenschaften sind keine spezifischen Eigenschaften des Wassers Mit der Gleichsetzung qualitativ unterschied­licher Erkenntnissubjekte wird offensichtlich die Spezifik des Erkenntnisprozesses der Menschheit eliminiert. Wenn der zu untersuchende Gegenstand der Erkenntnisprozess der Menschheit ist, dann muss die Frage nach den einfachen Elementen dieses Gegenstandes die Frage nach den Elementen jenes Erkenntnisprozesses sein, dessen Subjekt die Mensch­heit ist. Erst in dieser Form ist die Frage gegenstandsadäquat und bezieht sich genau auf den zu untersuchenden Gegenstand.
Das Bemühen, die allgemeinen Merkmale eines Gegenstandes aufzufinden, führt bei den sich entwickelnden Gegenständen folgerichtig dazu, dass die Gemeinsamkeiten von primitiven und entwickelten Gegenständen herausgearbeitet werden. Das aber hat nicht selten zur Folge, dass gerade die Spezifik des entwickelten Gegenstandes verloren geht; denn gemeinsam kann solchen Gegenständen nur das sein, was bereits bei den primitiven Formen gegeben ist. Marx verwies darauf bei der Darstellung der Methode der politischen Ökonomie. Es gibt allen Produktionsstufen gemeinsame Bestimmungen, die vom Denken als allgemeine fixiert werden; aber die sogenannten allgemeinen Bedingungen aller Pro­duktion sind nichts als diese abstrakten Momente, mit denen keine wirkliche geschichtliche Produktionsstufe begriffen ist.“/6/
Aber diese Beschränkung auf die abstrakten Momente beliebiger Erkenntnisprozesse folgt bereits logisch zwingend aus der zitierten Frage nach den einfachen und allgemeinen Elementen jedes beliebigen Erkenntnisprozesses. Sie wird durch den Schluss, mit dem diese Frage beantwortet wird, noch verstärkt. Dazu wird ausgeführt- „Wenn wir davon aus­gehen, dass Marx in seiner Analyse der materiellen Arbeitstätigkeit der Menschen nicht nur explizite die Spezifika dieser Tätigkeit herausarbeitet, sondern damit auch implizite die allgemeinen Bestimmungen jeder menschlichen Tätigkeit erfüllt. und wenn wir weiterhin davon ausgehen. daß auch Erkennen eine spezifische Art der Tätigkeit der Menschen ist, so können wir daraus die Möglichkeit ableiten, die Analyse des Erkenntnisprozesses metho­disch analog zur Marxschen Analyse des Arbeitsprozesses zu vollziehen./7/
Gegenstandsadäquat ist die Frage nach den einfachen und allgemeinen Elementen des Erkenntnisprozesses der Menschheit erst dann, wenn nach den spezifischen Elementen eines Erkenntnisprozesses gefragt wird, dessen Subjekt die Menschheit ist. „Allerdings ist unter Bedingungen antagonistischer Klassengesellschaften ein die gesamte Menschheit als sozial einheitliches Erkenntnissubjekt umfassender gesellschaftlicher Erkenntnisprozess nur begrenzt möglich ...“/8/ Das „einheitliche Erkenntnissubjekt Menschheit“ ist also eine theoretische Idealisierung, die mit dem marxistischen Ideal der reifen kommunistischen Ge­sellschaft übereinstimmt. In der Realität gibt es innerhalb der sozialistischen Staatengemein­schaft deutliche Tendenzen einer Entwicklung in Richtung der Herausbildung eines sol­chen Erkenntnissubjekts, der „Keimform des künftigen einheitlichen Menschheits-Erkennt­nisprozesses einer entwickelten kommunistischen Gesellschaft, in welchem sich die Mensch­heit als zunehmend sozial einheitliches Erkenntnissubjekt entfaltet“/9/. Die wirkliche Mensch­heit, die gegenwärtig auf der Erde existierenden Menschen, leben in Gemeinschaften ver­schiedener Art. Sie leben in allen Gesellschaftsformationen, die sich bisher auf der Erde herausgebildet haben (von der Urgesellschaft bis zum Sozialismus) und in fast allen For­men sozialer Gemeinschaften, die bisher entstanden sind (Sippe, Stamm, Nation, Staat, Staa­tengemeinschaft). Diese sozialen Gemeinschaften sind weiter häufig in Klassen gespalten, wobei wiederum gegenwärtig noch viele der Klassen existieren, welche die Geschichte hervorgebracht hat. Innerhalb dieser sozialen Gemeinschaften gibt es weiter kleinere Einheiten als deren Konstituenten, z. B. Familien oder Kollektive. Auch in ihnen finden gemeinschaft­liche Erkenntnisprozesse statt, auch sie sind Erkenntnissubjekte. Schließlich finden wir die Individuen, die als Mitglieder von Familien oder Kollektiven am Erkenntnisprozess ihrer sozialen Gemeinschaft und erst als deren Mitglieder am Erkenntnisprozess der Menschheit teilnehmen. Das entwickelte Erkenntnissubjekt Menschheit weist also eine hierarchische Struktur auf, in der die Individuen die unterste Stufe einnehmen.
Von allen diesen empirisch gegebenen Erkenntnissubjekten kommen die sozialen Ge­meinschaften dem theoretisch idealisierten Erkenntnissubjekt Menschheit am nächsten. Sie können daher „empirische gnoseologische Subjekte“ genannt werden. Der Zweck dieser Begriffsbildung besteht darin, empirisch gegebene und darum empirisch untersuchbare Gegebenheiten abzubilden, denen die theoretisch idealisierten Merkmale des Erkenntnisprozesses der Menschheit in einem gewissen, empirisch bestimmbaren Maße zukommen. Die Frage nach den spezifischen Merkmalen des Erkenntnisprozesses der Menschheit er­weist sich so als die Frage nach den gemeinsamen Merkmalen der Erkenntnisprozesse aller empirischen gnoseologischen Subjekte. Mit Hilfe dieser Begriffsbildung kann die Frage nach den Gemeinsamkeiten menschlicher Erkenntnisprozesse gegenstandsadäquat formuliert und die Beliebigkeit der Erkenntnissubjekte aus dieser Fragestellung ausgeschlossen wer­den. Um den Erkenntnisprozess empirischer gnoseologischer Subjekte sprachlich von ande­ren Erkenntnisprozessen abzuheben, sollte auch er durch einen eigenen Ausdruck bezeich­net werden, z. B. durch „gnoseologischer Akt“.
Die Frage nach den gemeinsamen Merkmalen gnoseologischer Akte bezieht sich nun nicht mehr auf beliebige Erkenntnisprozesse, sondern nur noch auf Erkenntnisprozesse der genannten Art In seiner einfachen Gestalt ist das gnoseologische Subjekt also eine soziale Gemeinschaft, in der alle Mitglieder über einheitliche Erkenntnisse verfügen. Ein gnoseologischer Akt ist ein Erkenntnisprozess, in dessen Ergebnis diese einheitliche (gesellschaft­liche) Erkenntnis entsteht. Die gnoseologischen Akte sind diejenigen kleinsten Elemente des Erkenntnisprozesses der Menschheit, die nicht weiter zerlegt werden können, ohne dass sie die spezifischen Eigenschaften des zu untersuchenden Gegenstandes verlieren. Analy­sieren wir nun weiter die Teile, dieses Prozesses, d. h. die Struktur des gnoseologischen Aktes, dann müssen wir uns stets dessen bewusst sein, dass wir damit die spezifische Ebene unseres Gegenstandes verlassen und andere Gegenstände untersuchen. (Um bei dem Ver­gleich mit der Analyse des Wassers zu bleiben, wird nun die Beschaffenheit von Wasser­stoff und Sauerstoff und deren Zusammenwirken im Wassermolekül untersucht. Als Phase der Untersuchung des Wassers geht es dabei nicht um beliebige Eigenschaften, sondern um diejenigen, die für die Beschaffenheit des Wassers bedeutsam sind.)
Auch für die Analyse der Struktur des spezifischen Gegenstandes Erkenntnisprozess der Menschheit gilt. dass es zwei Arten von Bestandteilen gibt. Die gnoseologischen Akte sind als die kleinsten Elemente diejenigen Bestandteile, die noch die Eigenschaften des unter­suchten Gegenstandes zeigen und die nicht weiter zerlegbar sind, ohne dass sie diese Eigen­schaften verlieren. Dann gibt es die Bestandteile, die entstehen, wenn die kleinsten Ele­mente des Gegenstandes selbst in ihre Bestandteile zerlegt werden. Diese weisen nicht mehr die Gegenstandseigenschaften auf. Das sind nun „Teile“ im eigentlichen Sinne des Wortes, d. h. Gebilde, die zu dem zu untersuchenden Gegenstand in der Teil-Ganzes-Relation stehen. Die Erkenntnisvorgänge der Individuen sind folglich nicht die kleinsten Elemente, sondern Teile des Erkenntnisprozesses der Menschheit wie seiner kleinsten Elemente, der gnoseologischen Akte. Die Aufgabe, die bei der Analyse individueller Erkenntnisprozesse als Phase der Untersuchung des Erkenntnisprozesses der Menschheit zu lösen ist, besteht folglich darin, nicht beliebige, sondern diejenigen Eigenschaften individueller Erkenntnisprozesse darzustellen, die für den qualitativ neuen Erkenntnisprozess der Menschheit be­deutsam sind.
Der individuelle Erkenntnisprozess ist Gegenstand verschiedener Wissenschaften, deren Erkenntnisse nun für die weitere Analyse herangezogen werden müssen, wobei sie ent­sprechend der Aufgabe zu verändern sind. Dabei ist die allgemein bekannte Aussage, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, von besonderer methodischer Bedeutung. Wenn das Ganze mehr sein soll als die Summe der Teile, die das Ganze bilden, dann müssen den Teilen im Ganzen Eigenschaften zukommen, die sie außerhalb des Ganzen nicht be­sitzen, sondern die sie erst durch die Wechselwirkung erhalten. Dabei gibt es sowohl solche Eigenschaften, die aus denen des „isolierten Teils“ ableitbar und darum vorhersagbar sind, als auch solche Eigenschaften, für die das nicht gilt. Erst diese machen die neue Qualität des Ganzen aus. „Das Neue entsteht aus dem Alten und ist doch prinzipiell neu.“/10/ Der Erkenntnisprozess des Individuums hat in Bezug auf den Erkenntnisprozess der Menschheit also zwei Arten von Eigenschaften a) solche, die ihm vor und unabhängig vom gesell­schaftlichen Erkenntnisprozess zukommen (z. B. neurophysiologische Eigenschaften, Widerspiegelungscharakter, Psyche) und aus diesen entspringende Eigenschaften, die von der Natur der Teile mit Notwendigkeit bestimmt sind, bereits vor der Integration der Teile als Möglichkeit gegeben sind, aber durch die Integration erst entfaltet werden (z. B. Vor­stellung, anschauliches Denken), und b) solche, die erst aus dem gesellschaftlichen Erkenntnisprozess resultieren und nicht aus den Eigenschaften der „isolierten Teile“ ableitbar und erklärbar sind; sie werden mit Notwendigkeit von der Natur des Ganzen bestimmt (z.B. Zeichen als Existenzform der Gedanken, Erkennen im engeren Sinne).
Schließlich muss noch darauf hingewiesen werden, dass die Existenz einer höheren Inte­grationsebene die Eigenschaften der niederen Ebene (unter a) genannt) verändert. So ver­ändert beispielsweise die Existenz der Sprache Vorstellungen und Anschauungen der indi­viduellen Erkenntnis. Diese prinzipiell neuen Eigenschaften des individuellen Erkenntnisprozesses sind Ergebnis ihrer Wechselwirkung im gesellschaftlichen Erkenntnisprozess, nicht, aber ihre Voraussetzung.
Für den Erkenntnisprozess der Menschheit sind gedankliche Abbilder nur dann bedeut­sam, wenn sie eine Form annehmen, die eine Existenz der Gedanken außerhalb des erken­nenden Individuums ermöglichen, beispielsweise in der gesprochenen oder geschriebenen Sprache. Als lediglich ‚.gedachte Gedanken“, d. h. als Gedanken in ihrer allein psychischen (neurophysiologischen) Existenzform, sind sie höchstens potentiell Teil der gesellschaft­lichen Erkenntnis Diese Unterscheidung ist insofern wichtig, als sie präzise Fragestellungen ermöglicht, die auf die Aufdeckung spezifischer Eigenschaften des Erkenntnisprozesses der Menschheit gerichtet sind. Solche Fragen sind beispielsweise: Wie verändert sich das Ideelle, wenn es aus der nur psychischen in die sprachliche Existenzform übergeht? Wie verändert sich das Ideelle auf dem umgekehrten Weg, wenn sich also ein Individuum eine in der Sprache vorgegebene gesellschaftliche Erkenntnis aneignet. Antworten auf beide Fragen sind offensichtlich für Forschung und Lehre von grober Bedeutung.
Von diesen Fragen aus gibt es aber auch einen direkten Zugang zum Problem des Verhältnisses von Sinnlichem und Rationalem: Das Sinnliche hat stets ein individuelles Gehirn zu seinem Träger, das Rationale existiert in der Sprache, die stets gesellschaftlich ist. Dafür ein Beispiel. In Kuba und der DDR existiert der gleiche rationale Begriff „Lurch“, wenn auch in verschiedener Sprache. Die Mengen der sinnlichen Anschauungen können aber durchaus disjunkt sein; denn die in beiden Ländern frei lebenden Lurcharten, welche die Gegenstände der Anschauungen sind, sind disjunkt. Im sprechenden Individuum bilden sinnliche Anschauung und rationaler Begriff eine spezifische Einheit In der gesellschaft­lichen Sprache sind jedoch die zufälligen, individuellen Anschauungen aufgehoben, dialek­tisch negiert, und völlig verschiedene Anschauungen gehen in den gleichen rationalen Begriff über. Das macht deutlich. dass das Rationale an ein gesellschaftliches Erkenntnissubjekt gebunden ist. Das gesellschaftliche Erkenntnissubjekt - in der Idealisierung die Menschheit - ist also eine notwendige, konstituierende Bedingung des Rationalen. Damit wird beispielsweise das Abstrahieren von vornherein zu einer Leistung eines notwendiger­weise gesellschaftlichen Subjekts; es kann nicht mehr als Leistung eines einzelnen Indi­viduums gedacht werden. Die Abstraktheit des Denkens ist folglich eine Eigenschaft. die das individuelle Denken erst durch die Gesellschaft erhält.
Aus alledem resultieren Fragen in Bezug auf die Verwendung der Ausdrucke „Indivi­duum“, individuelles Erkennen“ und „individuelle Erkenntnis“, wenn sie als Teile des menschlichen Erkenntnisprozesses behandelt werden. Unbestritten ist, dass in der Wirk­lichkeit das erkennende Individuum stets nur als Teil der erkennenden Menschheit exi­stieren kann. Was aber bedeutet die Floskel „als Teil“? Bedeutet sie das Gegenteil von „iso­liert“? Der Ausdruck „Individuum“ ist zur Bezeichnung des Teils einer Gesellschaft zu­mindest zweideutig: Er kann „isoliertes Teil“, d. h. das Teil ohne die unter b) genannten Eigenschaften, bedeuten, und er kann „vergesellschaftetes Element“ mit diesen Eigen­schaften bedeuten. Daraus resultiert die Frage, ob das isolierte Individuum (nur mit den unter a) genannten Eigenschaften) als „menschliches Individuum“ bezeichnet werden kann. Diese Frage ist nicht ohne Berücksichtigung von Grundpositionen der Theorie der Mensch­werdung zu beantworten. Kurz gesagt geht es dabei um folgendes: Durch die Vergesell­schaftung von nichtmenschlichen Lebewesen entsteht ein neues Ganzes, eine neue Qualität, eben eine Gemeinschaft, welche die Bedingung dafür ist, dass ihre nicht-menschlichen Elemente sich in ihrem Schoße zu Menschen umwandeln. Die Grundlage dieses Prozesses ist die Umgestaltung der individuellen Lebenstätigkeit dieser nicht-menschlichen Lebewesen in die gesellschaftliche Arbeit. Das, was den Menschen, das menschliche Individuum ausmacht, sind Eigenschaften, wie sie unter b) genannt wurden, wobei der Prozess der Menschwer­dung, d. h. das Werden des menschlichen Individuums in der Gesellschaft und durch sie, auch die soziale Umgestaltung der unter a) genannten Eigenschaften der psychischen Tätigkeit  der Individuen umfasst. Individuelles Erkennen, d. h. die in Aussagen gegebene Form der psychischen Widerspiegelung der Realität, muss als eine Tätigkeit  der Individuen aufgefasst werden, die als Resultat der Vergesellschaftung ursprünglich nicht-menschlicher Wesen entstanden ist./11/ Das Isoliertsein des gewordenen Menschen ist - wie Marx feststellte - das Resultat eines historischen, gesellschaftlichen Prozesses /12/ und nicht die natürliche Vor­aussetzung seiner Vergesellschaftung.
Die Bedeutung der vorgetragenen Überlegung für die Untersuchung des Erkenntnisprozesses der Menschheit besteht darin, dass durch sie die Gesellschaft und die gesellschaft­liche Erkenntnis gegenüber dem Individuum und der individuellen Erkenntnis als das Ur­sprüngliche bestimmt wird, das dem Abgeleiteten historisch vorausgeht und das dieses darum erklären mut; denn das später Entstandene kann nicht das ihm Vorausgehende erklären. Als methodisches Prinzip muss also gelten:

  1. Das individuelle Erkennen muss logisch aus dem gesellschaftlichen Erkennen abgeleitet werden, weil es aus diesem ent­steht. Individuelles Erkennen erklärt gesellschaftliches Erkennen nicht, sondern muss aus ihm erklärt werden. Daraus folgt unmittelbar:
  2. Die Analyse des gesellschaftlichen Erkennt­nisprozesses muss vor der Analyse des individuellen Erkenntnisprozesses erfolgen./13/

Analysiert man nun weiter die unterschiedlichen Funktionen der einzelnen individuellen Erkenntnisprozesse innerhalb der gnoseologischen Akte, dann lassen sich zunächst zwei Arten oder Typen dieser Prozesse unterscheiden: a) individuelle Erkenntnisprozesse, durch die neue Erkenntnisse produziert werden, die Erkenntnisproduktion, und b) die Aneignung der produzierten Erkenntnisse durch (alle) Mitglieder der Gesellschaft. Erkenntnisproduk­tion und Erkenntnisaneignung erweisen sich als dialektisch entgegengesetzte Pole des einheit­lichen gnoseologischen Aktes. Als solche schließen sie einander aus und bedingen (,‚machen“) sie einander zugleich. Erkenntnisproduktion ist in bezug auf das gnoseologische Subjekt notwendig ein individueller Erkenntnisprozess. Die in seinem Ergebnis entstehende und in Bezug auf den gegebenen Erkenntnisstand des gnoseologischen Subjekts neue Erkenntnis ist noch nicht wirklich, nicht real wirksame gesellschaftliche Erkenntnis, sondern sie ist dies erst potentiell. Sie wird real wirksame gesellschaftliche Erkenntnis erst, indem sie von anderen Mitgliedern der Gesellschaft angeeignet wird. Damit aber wird die spezifische Qualität der Erkenntnisproduktion, neue, individuelle Erkenntnis zu sein, negiert./14/
Bevor und indem dies geschieht, wird die neue Erkenntnis von der Gesellschaft auch einer Prüfung unterzogen, sowohl in Bezug auf ihre praktische Anwendbarkeit als auch in Bezug auf ihre „ideologische Verträglichkeit“. Neue Erkenntnisse, die mit der Ideologie einer Gesellschaft nicht verträglich sind oder zu sein scheinen, werden zuruckgewiesen - unter Umständen bis zur physischen Vernichtung ihrer Träger.
In der hier dargestellten Fassung des Begriffs „Erkenntnisprozess der Menschheit“ wird die Erkenntnisaneignung als dessen essentielles Moment aufgefasst. Tatsachlich kann weder die Menschheit noch eine andere soziale Gemeinschaft ohne massenhaften Vollzug von Pro­zessen der Erkenntnisaneignung zum Subjekt irgendeiner Erkenntnis werden.
Auch in der Arbeit eines Forschers nimmt die Aneignung von Erkenntnissen einen beträchtlichen Raum ein. Mit dieser Feststellung wird gegen Aussagen wie die folgende pole­misiert. „Der individuelle Erkenntnisprozess besteht vorwiegend, in bestimmten Fällen sogar ausschließlich, aus der Aneignung von Erkenntnissen . . . Der gesamtgesellschaftliche Erkenntnisprozess hingegen ist ein Prozess der beständigen Vermehrung des gesellschaft­lichen Grundwissens.“/15/ Mit einer solchen Auffassung wird doch im Grunde genommen der Erkenntnisprozess der Menschheit auf die Produktion von Erkenntnissen reduziert und die Erkenntnisaneignung als eine Seite des Erkenntnisprozesses der Menschheit ausgeschlossen. Dem entspricht, dass die spezifischen erkenntnistheoretischen Besonderheiten dieses Pro­zesses keiner weiteren Untersuchung unterzogen werden. Daher können aber auch Aussagen wie die folgende nicht logisch zwingend aus dem Gegenstand der Erkenntnistheorie abge­leitet werden (sie wurden ja aus ihm ausgeschlossen), sondern werden diesem argumentie­rend hinzugefugt ~..~Eine grundlegende und ständige Aufgabe besteht in der Aneignung der Theorie des Marxismus-Leninismus durch die Partei und ihre Mitglieder und ihrer Ver­breitung in der Arbeiterklasse und bei allen Werktätigen . . . Die Partei initiiert und lenkt diejenigen Erkenntnisprozesse bei Individuen, Kollektiven, sozialen Schichten usw., die auf die Aneignung von Grundeinsichten des Marxismus - Leninismus gerichtet sind./16/
Mit diesen Feststellungen soll keineswegs versucht werden, eine vorhandene einzelwissenschaftliche Disziplin (etwa die Didaktik) in die marxistisch-leninistische Erkenntnis­theorie einzubeziehen. Es geht vielmehr darum, darauf aufmerksam zu machen, dass der Prozess der Erkenntnisaneignung bisher nicht daraufhin untersucht worden ist, welche Be­ziehung er tatsächlich zum Gegenstand der marxistisch-leninistischen Erkenntnistheorie hat. Er wird zwar als spezifischer Erkenntnisprozess gesehen. jedoch nicht als wesentliches konstituierendes Element des Gegenstandes der Erkenntnistheorie verstanden. Vielmehr wird er ohne nähere Prüfung zu den legitimen Gegenständen anderer Wissenschaften ge­zählt, meistens der Pädagogik oder der Psychologie. Gegenstand speziell erkenntnistheore­tischer Analysen ist dieser Erkenntnisprozess jedoch kaum, Dem gegenüber wird hier die Auffassung vertreten, dass der Prozess der Erkenntnisaneignung konstituierendes Element des Erkenntnisprozesses der Menschheit ist und folglich erkenntnistheoretisch untersucht werden muss. Dass dies mit anderer Zielstellung und anderen Mitteln erfolgen muss als bei­spielsweise in der Pädagogik, versteht sich von selbst. 

 










 

 

 

 

 

Publiziert in :Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 7/1985, Seite 640 bis 645

Anmerkungen:
/1/ D. Wittich. Fragen der Darstellung der marxistisch-leninistischen Erkenntnistheorie. In:DZfPh. Heft 12/1981. S. 1462
/2/ Vgl.: Ebd. 5. 1458
/3/ Das Wort „Element“ drückt in diesem Fall nicht den chemischen Elementbegriff aus.
/4/ Vgl. D. Wittich/K. Gößler/K. Wagner: Marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie. Berlin 1980
/5/ Ebd. S. 94 (Hervorhebung zum Teil von mir — G. L.)
/6/ K. Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin 1953. S. 10
/7/ D. Wittich/K. Gößler/K. Waqner: Marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie. S. 93
/8/ Ebd. S. 451
/9/Ebd
/10/ K. Fuchs-Kittowski; Zum Problem des Reduktionismus in der Biologie. In: Sitzungs­berichte der Akademie der Wissenschaften der DDR. Mathematik — Naturwissenschaften —Technik. Heft 5 N (1979). S. 25
/11/ „... darum sind die Sinne des gesellschaftlichen Menschen andre Sinne wie die des ungesellschaftlichen. ... Die Bildung der 5 Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte.“ (K. Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. In: K. Marx/F. Engels: Werke. Erg.Bd. Teil Berlin 1968. 5. 541 f.)
/12/ Vgl.: K. Marx• Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. 5. 393 ff, speziell 395
/13 Es soll nochmals darauf. hingewiesen werden, daß genau Erkenntnis gemeint ist, d. h. die gesellschaftliche Form individueller Widerspiegelung.
/14/ Vgl. G. Litsche: Lernen — Forschen — Erkennen. In: DZfPh. Heft 2/1970
/15/ D. Wittich;/K. Gößler/K. Wagner: Marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie. S. 103
/16/ Ebd. S. 397 (Hervorhebung von mir — G. L.)

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© Dr. G. Litsche 2006
Letzte Bearbeitung: 23.02.2012