Subjekte

Menschen können nur als Menschen sein, indem sie einander Subjekte sind.

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Erkenntnisbegriff 1:
Lernen - Forschen - Erkennen

Gegenstand der erkenntnistheoretischen Überlegungen dieses Teilprojekts ist das Wissen, das die eine gegebene Gesellschaft in der Sprache und anderen Zeichen, in tradierten Verhaltensweisen, Werkzeugen und anderen Gegenständen und Formen ihrer Kultur besitzt als auch der Prozess, durch den dieses Wissen entsteht und sich entwickelt. Dieses gesellschaftliche Wissen ist dem Leben jedes einzelnen Menschen vorausgesetzt und wird jedem Menschen zunächst unkritisch und unreflektiert angeeignet. Jeder einzelne Mensch ist als  Mitglied einer Gesellschaft – wenn auch in unterschiedlichem Maße – Träger der Erkenntnisse seiner Gesellschaft. Diese native, ursprüngliche Erkenntnis des Einzelnen ist eine Vorraussetzung aller seiner Tätigkeiten und Handlungen, auch seiner Erkenntnistätigkeit.
Diese Überlegung begründet, warum auch Erkenntnistheorie nicht voraussetzungslos und unvoreingenommen betrieben werden kann. Sie benennt aber die Voraussetzungen und Vorurteile, von denen meine Überlegungen ausgehen und die ich auf ihre Wahrheit überprüfen will. Dabei räume ich auch die Möglichkeit ein, dass dies unmöglich ist oder es gar keine Wahrheit gibt. Die Bestätigung der Voraussetzungen kann aber erst als Resultat der Analyse erfolgen.
Wenn ich im Folgenden von „Erkenntnistheorie“ ()als Theorie der Erkenntnis spreche, ist eben dieser Gegenstand gemeint. Man mag das als Beitrag zur allgemeinen Diskussion über den Gegenstand der Erkenntnistheorie halten, darin besteht hier aber nicht meine primäre Intention. Wichtig ist mir, dass Erkenntnis so bereits im Ausgangsbegriff als Beziehung zwischen gesellschaftlichen Individuen gefasst ist, als Beziehung der gesellschaftlichen Individuen zueinander in der von ihnen gebildeten Gesellschaft.
In diesem Ausgangsbegriff wird die die Gesamtheit der menschlichen Erkenntnis als Gegenstand der Erkenntnistheorie erfasst. Erkenntnistheorie kann sich also nicht auf die wissenschaftliche Erkenntnis und den Prozess der Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnis der Gesellschaft, die wissenschaftliche Forschung beschränken, sondern auch das umgangssprachliche wissenschaftliche Wissen sowie Religion, Aberglauben, Kunst usw. umfassen. Auch die in Werkzeugen, Symbolen und tradierten Handlungen enthaltenen Erkenntnisse werden nicht aus der erkenntnistheoretischen Analyse ausgeschlossen.
Eine Erkenntnistheorie mit diesem Gegenstand könnte als „allgemeine Erkenntnistheorie“ bezeichnet werden, die verschiedene „spezielle Erkenntnistheorien“ umfasst.

Das Wort „Erkenntnis“ bezeichnet zunächst die sich in der Zeit erhaltende, bestehende gesellschaftliche Erkenntnis. „Erkenntnis“ bezeichnet umgangssprachlich jedoch nicht nur die bestehende Erkenntnis, sondern auch den Prozess, in dem diese gesellschaftliche Erkenntnis entsteht und sich entwickelt, den Erkenntnisprozess. Diese Doppelbedeutung ist in der fachsprachlichen Terminologie zu vermeiden. Hier verwende ich „Erkenntnis“ stets im Sinne „bestehende gesellschaftliche Erkenntnis“. Andere Bedeutungen werden – soweit sie nicht eindeutig durch den Kontext identifiziert sind – durch geeignete Attribute ausgedrückt, auch wenn daraus eine gewisse Umständlichkeit des Ausdrucks folgt. Der Terminus „Erkennen“ drückt den Tätigkeitsaspekt des Erkenntnisprozesses aus, sei es individuelles oder gesellschaftliches Erkennen.

Der gesamtgesellschaftliche Prozess der Erhaltung und Entwicklung der gesellschaftlichen Erkenntnis erfordert zwei Tätigkeitsformen, in denen die Mitglieder einer Gesellschaft arbeitsteilig zusammenwirken.
1.       Die Tätigkeit des ersten Erkennens durch einzelne Mitglieder oder Gruppen der Gesellschaft, durch die neue Erkenntnisse entstehen, Erkenntnisse, durch welche die bereits vorhandene gesellschaftliche Erkenntnis erweitert, präzisiert oder korrigiert wird. Diese Tätigkeit wird in ihrer organisierten Form gewöhnlich als "Forschen" bezeichnet.
2.       Die Tätigkeit, durch welche sich die Mitglieder der Gesellschaft bereits bestehende oder durch Forschen entstandene neue Erkenntnisse aneignen. Diese zweite Form des Erkennens wird gewöhnlich als "Lernen" bezeichnet.
Diese Bedeutung der Termini „Forschen“ und „Lernen“ entspricht auch ihrer naiv umgangssprachlichen Verwendung (). Ihre Bedeutung für eine wissenschaftliche Erkenntnistheorie besteht darin, dass sie die individuellen Erkenntnisprozesse in den gesamtgesellschaftlichen Erkenntnisprozess einordnen.
Die traditionelle Erkenntnistheorie betrachtet das individuelle Erkennten gewöhnlich nur als Herausbildung neuer Erkenntnisse, als Forschen und löst damit die individuellen Erkenntnisvorgänge  des Forschens aus ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang. Damit verliert die traditionelle Erkenntnistheorie den gesellschaftlichen Erkenntnisprozess aus ihrem Blickfeld und kann ihn später nur mehr oder weniger unbegründet konjunktiv anfügen.

In dieser Sicht sind Lernen und Forschen jedoch notwendige Komponenten des einheitlichen Erkenntnisprozesses der Gesellschaft. Beider Ausgangspunkt ist die bestehende gesellschaftliche Erkenntnis. Durch Lernen nähert sich die individuelle Erkenntnis immer weiter an die gesellschaftliche Erkenntnis an, bis sie im Idealfall mit dieser übereinstimmt. Durch Forschen wird die bestehende gesellschaftliche Erkenntnis durch einzelne Individuen korrigiert oder erweitert. Aber erst durch Lernen werden durch die Forschen entstandenen Erkenntnisse wirklich gesellschaftlich. Bis sie von einem hinreichen großen Teil der Bevölkerung durch Lernen angeeignet sind, bleiben sie nur potentiell gesellschaftliche Erkenntnis.
Im Erkenntnisprozess der Gesellschaft werden im Lernen, dem Prozess der Aneignung der durch Forschung bereitgestellten Erkenntnisse die neuen Erkenntnisse einer Wertung durch die lernende Gesellschaft unterzogen. Nur das, was den Bedürfnissen der Mitglieder der Gesellschaft entspricht, wird von diesen auch angeeignet und Element der gesellschaftlichen Erkenntnis, die an die Nachkommen weiter gegeben wird. Was nicht gelernt wurde, ist (in einer schriftlosen Gesellschaft) für die Gesellschaft verloren. Für den Fortschritt der gesellschaftlichen Erkenntnis ist also das Lernen genau so bedeutsam wie das Forschen.
Dabei ist es unerheblich, ob diese Tätigkeiten "naturwüchsig" oder in einer gesellschaftlich organisierten Form ausgeübt werden. Jeder Mensch eignet sich naturwüchsig ständig gesellschaftliches Wissen durch Lernen an, sei es beim Lesen von Büchern oder Zeitungen oder z.B. im Werbefernsehen, in dem er die Segnungen neuer Artikel erfährt. Er forscht naturwüchsig, indem er z.B. neue Menschen kennen lernt und an diesen Eigenschaften entdeckt, die vor ihm noch keiner bemerkt hat, oder indem er bei einem Spaziergang aktuelle Veränderungen einer Landschaft bemerkt. Indem er dies anderen Menschen mitteilt, trägt er auch zu Bereicherung der gesellschaftlichen Erkenntnis bei.
In gesellschaftlich organisierter Form tritt Lernen z.B. als Unterricht oder Weiterbildung auf, Forschen als wissenschaftliches Forschen oder bei der Konstruktion neuer Maschinen.

 

 

Angemerkt:
Sprache wird zunächst nur als Lautsprache, Zeichen werden nur als vorsprachliche Zeichen, als Zeichen, die wie beispielsweise als Insignien benutzte Werkzeuge keiner verbalen Erläuterung bedürfen (auch wenn sie heute eine erhalten haben).
Die Schriftsprache ist eine entwickelte Form der Sprache und wird erst später in die Darstellung einbezogen.
Auffassungen zum Gegenstand der Erkenntnistheorie habe ich 1985 veröffentlicht ().

 

 

 

 

 

 

 

Angemerkt:
Mit der Entwicklung der Schrift erhält der gesellschaftliche Prozess des Erkennens eine neue Qualität, sie wird "objektive" Erkenntnis. Der an die Sprache gebundene Teil der Erkenntnis ist nicht mehr an das Leben von wissenden Individuen gebunden, sondern erhält eine eigenständige Existenz. Nun muss nur noch die Fähigkeit des Lesens, das Wissen um den Code unmittelbar, von Mensch zu Mensch weitergegeben werden.

 

 

Frühe Texte:
Die Analyse des Lernens im Kontexte der gesamtgesellschaftlichen Erkenntnis war Gegenstand meiner Dissertation (). Eine frühe Publikation ist hier zu finden.

Weiterführende Links:
Projekt Erkenntnistheorie

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© Dr. G. Litsche 2006
Letzte Bearbeitung: 01.06.2011