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Menschen können nur als Menschen sein, indem sie einander Subjekte sind.

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Nur ein neuer Standpunkt in der Didaktik?

Gedanken zu Dawydows Buch:
 "Arten der Verallgemeinerung im Unterricht"

Vorbemerkung der Redaktion

Mit den folgenden Ausführungen wollen wir die Aufmerksamkeit unserer Leser auf ein Buch des sowjetischen Autors Prof. Dr. W. W. Dawydow lenken, das 1972 in Moskau erschienen ist und seit 1977 auch in deutscher Sprache vorliegt.
Professor Dawydow ist Direktor des Instituts für Allgemeine und Pädagogische Psychologie an der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der UdSSR. Sein Buch beruht auf langjähriger umfangreicher Forschungsarbeit; es gehört in der Sowjetunion zu den am meisten diskutierten pädagogisch-psychologischen Veröffentlichungen der letzten Jahre.
Die von Dawydow ausgeführten Gedanken betreffen die Arbeit des Lehrers und des Methodikers in einem Bereich, mit dem wir uns unter dem Druck der täglichen Verpflichtungen nur selten beschäftigen können; aber es sind Grundfragen, und sie gehen jeden an.
Das Buch Dawydows ist streitbar, ja provozierend, und mancher wird geneigt sein, die im ursprünglichen Sinne des Wortes radikalen (also an die Wurzel gehenden) Ausführungen von vornherein abzulehnen, weil er sie als Angriff auf Grundlagen seiner Arbeit und unserer Erfolge empfindet... - So leicht sollten wir es uns aber nicht machen!
Dawydow behandelt Fragen, die den meisten unserer Leser ungewohnt sein werden. Aber so neu sind sie für die Pädagogik in unserem Lande nicht: Viele Diskussionen und letztlich Entscheidungen im Bereich des Unterstufenunterrichts beispielsweise, besonders im Hinblick auf Mathematik, liegen in der Richtung, in die Dawydows Buch zielt.
Wir bringen zu diesem Buch keine Rezension im üblichen Sinne, weil wir meinen, daß die Thematik in der hier gewählten Form besser - vor allem eher zur Diskussion herausfordernd - dargestellt werden kann. Und wir haben, mit G. Litsche einen Autor gewählt, der durch eigene Arbeiten zu ähnlichen Positionen gelangte wie Dawydow. Er hat in den Jahren 1964 bis 1968 - zum Teil gemeinsam mit R. Loschan - solche Auffassungen auch in BioS publiziert.
Wir wollen also die Aufmerksamkeit unserer Leser auf ein Buch lenken, zur Beschäftigung mit den, dargestellten Gedanken anregen und Diskussionen herausfordern.
Unser Bemühen resultiert nicht zuletzt aus der Tatsache, daß sich die Biowissenschaften, also der "Materialbereich" unserer pädagogischen Arbeit, in einem Stadium befinden, in dem sich grundsätzliche Veränderungen anzeigen, die Denkweisen und Strukturen betreffen und sich vielleicht am deutlichsten darin äußern, daß die Herausbildung einer theoretischen Biologie auf der Tagesordnung steht. Damit ergeben sich von unserem Fach aus besonders enge Beziehungen zu den von Dawydow dargelegten Problemen.
In der weiteren Diskussion wird es vor allem auf die Konkretisierung der Kategorien "empirische Begriffe" und "theoretische Begriffe" für unsere Belange ankommen. Aber es könnte auch von Interesse sein, an historischen und aktuellen Beispielen aus den .Biowissenschaften die Auseinandersetzung um unterschiedliche Denk- und Verallgemeinerungsformen zu demonstrieren. Beispiele dazu gibt es; als neuestes sei der Beitrag,. von Löther und Peters in Heft 9/78 genannt.

Wie in jeder Wissenschaft, so gibt es auch in der Didaktik eine Reihe unterschiedlicher Standpunkte und wissenschaftlicher Schulen.
 In seinem nun auch in deutscher Sprache erschienenen Buch "Arten der Verallgemeinerung im Unterricht" fügt Dawydow den vorhandenen Standpunkten einen weiteren hinzu. Aber bereits in den Vorworten zur deutschen und zur russischen Ausgabe führt er aus, daß seine Arbeit mehr sein soll. Er erhebt den Anspruch, der "traditionellen Didaktik", das heißt der Gesamtheit der verbreiteten Standpunkte, einen qualitativ neuen Standpunkt entgegenzusetzen.
Dieser Anspruch äußert sich schon in der Verwendung des Wortes "traditionell" zur Charakterisierung der auch uns in der DDR geläufigen Auffassungen zum Unterricht und zum Lehrplan.
Dawydow unterzieht zunächst die "traditionelle Didaktik" einer eingehenden Analyse, indem er die psychologischen, logischen und .erkenntnistheoretischen Positionen untersucht, auf denen die gegenwärtige Theorie des Unterrichts aufgebaut ist. Er vermerkt, daß die Didaktik bisher vorwiegend darauf gerichtet sei, empirische Begriffe bei den Schülern herauszubilden, und er schreibt: "Unserer Ansicht nach wird... durch das bestehende Unterrichtssystem bei den Schülern vorwiegend nur das empirisch verstandesmäßige Denken herausgebildet und gepflegt. Das Modell' dieses Denkens ist von seiner logischen, psychologischen und didaktischen Seite her gut untersucht. Es ist tief in der Technologie' der Fachmethodiken verankert.
Die Volksbildung weiter zu vervollkommnen, sie mit den wissenschaftlich- technischen Errungenschaften des Jahrhunderts in Übereinstimmung zu bringen, setzt eine Änderung des vom Unterricht projektierten Denktyps voraus. Zum Modell " muß das dialektische, das theoretische Denken  werden."
Dawydows Buch ist streitbar, und so verwundert es nicht, daß sowohl im Vorwort der Herausgeber (Drefenstedt u.a.) als auch im Vorwort Dawydows zur deutschen Ausgabe darauf hingewiesen wird, daß die in diesem Buch vertretenen Auffassungen Anhänger und Kritiker gefunden haben; aber, so schreiben die deutschen Herausgeber: "Auf keinen Fall kann man an den dargelegten Positionen vorbeigehen. Sie fordern zur Stellungnahme heraus."
Dawydow argumentiert sowohl bei der .Kritik anderer als auch bei der Darlegung seiner Auffassungen vor allem von logischen und erkenntnistheoretischen Standpunkten aus, wobei auch Standpunkte der Psychologie einbezogen werden. Dabei operiert er vorwiegend mit dem Kategorienpaar "empirische Begriffe - theoretische Begriffe". Klarheit über diese Kategorien ist Voraussetzung für das Verständnis seines Anliegens und seiner Argumentationsweise.
Die Unterscheidung der Begriffe in empirische und theoretische ist in der Logik und Erkenntnistheorie relativ neu. Das Problem wurde in der einschlägigen deutschsprachigen marxistischen Literatur ausführlich von Georg Klaus zwischen 1960 und 1970 dargestellt. Inzwischen liegen mehrere Übersetzungen aus dem Russischen vor. Obwohl sich umfassende Ausführungen zum Verhältnis empirischer und theoretischer Begriffe hier verbieten, kann doch auf eine kurze Charakteristik nicht verzichtet werden:
Beide Arten von Begriffen sind das Resultat verschiedener Arten von Schematisierung und Idealisierung im Prozeß der Verallgemeinerung. Der Unterschied zwischen empirischen und theoretischen Begriffen ist als Unterschied zweier Arten der intellektuellen wissenschaftlichen Aneignung der Welt zu sehen. Die erste - die empirische - basiert auf einem System der Analyse der Wirklichkeit, das eine möglichst genaue Beschreibung der Welt in all ihrer Mannigfaltigkeit anstrebt. Die zweite dagegen - die theoretische ist nicht darauf gerichtet, den untersuchten Gegenstand in seiner, Mannigfaltigkeit zu beschreiben, sondern darauf, in sein Wesen einzudringen.
Mit anderen Worten, die Einteilung der Begriffe der Wissenschaft in empirische und theoretische ist dadurch bedingt, daß in der wissenschaftlichen Forschung verschiedene Methoden der Analyse angewendet werden und die Realität so auf zweierlei Art eben mittels empirischer oder theoretischer Begriffe - widergespiegelt wird.
Kurz gefaßt kann der Unterschied zwischen empirischen und theoretischen Begriffen wie folgt charakterisiert werden:
Empirische Begriffe bilden  Fragmente der Wirklichkeit ab; die Objekte der Realität werden in bestimmter Hinsicht betrachtet und auf bestimmte Art schematisiert. Objekte empirischer- Begriffe können daher annähernd mit Fragmenten der Wirklichkeit identifiziert werden.
Im Gegensatz zu den empirischen sind theoretische Begriffe nicht Abbilder von  Fragmenten der Wirklichkeit, sondern logische Rekonstruktionen der Wirklichkeit. So sind zum Beispiel "Punkt" und absolut schwarzer Körper" theoretische Begriffe, während "Stuhl" und "die Entfernung zwischen Erde und Mond" empirische Begriffe sind.
Die Unterscheidung der Begriffe in empirische und theoretische ist keine Unterscheidung in wissenschaftliche und unwissenschaftliche Begriffe. Diese Charakteristik muß beim Lesen des Buches beachtet werden, da Dawydow. (jedenfalls, in der deutschen Ausgabe) die Ausdrücke "wissenschaftlich" und "theoretisch" oft synonym verwendet. Beides sind wissenschaftliche Begriffe, die auf verschiedene Weise, gewonnen werden und den Gegenstand der Wissenschaft unterschiedlich widerspiegeln.
Dieser Sachverhalt ist für die Didaktik dadurch bedeutsam, daß dem Schüler theoretische Begriffe auf andere Weise, mit anderer "Technologie", vermittelt werden müssen als empirische.
Dawydows Position besteht nun darin, daß die Aufgabe der sozialistischen Schule, die Schulbildung mit den wissenschaftlich - technischen  Errungenschaften des Jahrhunderts in Übereinstimmung zu bringen, nur zu lösen sei, indem die Schüler frühzeitig theoretische Begriffe erwerben. Er schreibt: "Die' Aufgabe, die Volksbildung mit den Errungenschaften der wissenschaftlich -  technischen Revolution in Übereinstimmung zu bringen' wird nicht dadurch gelöst, daß Inhalt und Methodiken... vervollkommnet werden, sondern dadurch, daß die eingeführten Methoden der Aufbereitung des Unterrichtsstoffes durch andere Prinzipien der Auswahl und der Darstellung des Materials ersetzt werden. Bis jetzt waren diese Methoden vor allem auf die Erziehung der Schüler zum empirisch - verständigen  Denken orientiert. Die neuen Prinzipien müssen so gestaltet sein, daß sie bei allen Schülern zu einer Entwicklung des wissenschaftlich - theoretischen Denkens führen."
Diese Art der Gestaltung des Unterrichts müßte folglich andere Formen des Denkens der Schüler - herausbilden als der "traditionelle" - Unterricht. Die neuen Formen müssen dem wissenschaftlich - theoretischen Denken von heute entsprechen.
Das "traditionelle" Unterrichtssystem jedoch verfügt, obwohl es das Prinzip der Wissenschaftlichkeit der Bildung verfolgt, nach Dawydows Ansicht, nicht über die adäquaten Mittel, dieses Prinzip zielgerichtet zu realisieren.
Dawydow stellt also neue Anforderungen an den Unterricht und seine Theorie; denn er stellt der Didaktik die Aufgabe, den Prozeß der Aneignung theoretischer Begriffe durch die Schüler zu erforschen und für den Lehrer praktikabel; zu machen. Die Aktualität dieser Aufgabenstellung ergibt sich daraus, daß die gegenwärtigen Lehrpläne eine große Anzahl eigentlich theoretischer Begriffe enthalten, die Darlegung des Unterrichtsstoffes jedoch vorwiegend auf die Prinzipien des empirischen Denkens orientiert ist und so nicht die zum theoretischen Denken notwendigen Bedingungen bietet. Dawydow sieht darin einen Faktor, der der   Erhöhung des wissenschaftlichen Niveaus der Bildung, und der konsequenten- Verwirklichung der Wissenschaftlichkeit des Unterrichts, wie sie von unserer Didaktik, gefordert wird, im Wege steht. "Unter diesen Umständen", so meint er, "können die wissenschaftlichen Begriffe bei ihrer Schulinterpretation nur ein Surrogat wissenschaftlicher Kenntnisse werden."
In dieser These besteht der Kern der Kritik Dawydows am gegenwärtigen Unterricht. Der theoretische Gehalt des von den Schülern zu erwerbenden Wissens kann nach seiner Meinung mit der gegenwärtigen "Technologie des Unterrichts", die auf den Erwerb empirischer Begriffe orientiert ist, nicht erschlossen werden. Diesen Gedanken äußert Dawydow mehrfach. So schreibt er bereits im Vorwort: "In der detaillierten und bisweilen monotonen Untersuchung der gesamten ´Technologie' und des realen Unterrichts in der traditionellen Schule habe ich nachgewiesen, daß die sich in diesem Unterricht vollziehende Begriffsbildung bei den Kindern nach dem Muster der. empirischen Verallgemeinerung erfolgt. Eine solche Verallgemeinerung unterscheidet sich im Prinzip durch nichts von der Methode des Kenntniserwerbs im alltäglichen Leben. Durch eine solche Verallgemeinerung bildet sich die intellektuelle Fähigkeit heraus, Dinge und Erscheinungen nach ihren äußeren Eigenschaften und Merkmalen zu klassifizieren, die Fähigkeit, die gegenständliche Bedeutung der Worte der Umgangssprache zu verstehen. Das Vorhandensein einer solchen Fähigkeit erlaubt es dem Menschen, und besonders jenem, der über die traditionelle und jetzt allgemein übliche Schulbildung verfügt, sich in der Umwelt richtig zu orientieren, den Sinn der Wörter der Alltagssprache richtig zu werten und die ihn umgebenden Dinge nach ihrer Art - Gattungs - Abhängigkeit zu erkennen und richtig zu klassifizieren.
Das alles ist an und für sich sehr gut und sehr positiv, und es wäre ein bedeutsamer Effekt der traditionellen Bildung (und bis vor kurzem war ein solcher Effekt der Massenbildung wirklich bedeutsam), wenn nicht folgender Umstand existierte: Die spezielle Analyse zeigt, daß auf der Grundlage der empirischen Verallgemeinerung bei den Schülern im Prinzip moderne wissenschaftliche Begriffe und letztendlich Verfahren des modernen wissenschaftlich-theoretischen Denkens nicht herausgebildet werden können. Es entsteht ein scharfer Widerspruch - die heutige Schulbildung soll alle Schüler zur modernen Wissenschaft führen und bei ihnen die Grundlagen der modernen wissenschaftlichen Weltanschauung herausbilden; die traditionelle ,Technologie' des Unterrichts aber, die sich auf die empirische Verallgemeinerung stützt, gibt nicht nur keine Möglichkeit zur Lösung dieser wichtigen Frage, sondern verhindert sie sogar."
Am deutlichsten äußert Dawydow seine Auffassung mit folgenden Worten: "Wird denn aber bei den heutigen Schülern, besonders bei den älteren, theoretisches Denken nicht herausgebildet? Woher kommen dann aber die ,Gelehrten', die ,Talente der Wissenschaft'?  Die Frage ist sofort mit ,ja' zu beantworten. Es wird theoretisches Denken herausgebildet, jedoch erstens nicht bei allen Schülern, zweitens mit bedeutenden Fehlschlägen und drittens entgegen den Konzeptionen der traditionellen pädagogischen Psychologie und der Methodik oft spontan."
Theoretisches Denken entwickelt sich bei  unseren Schülern nach Dawydow also nicht durch den Unterricht, sondern trotz des Unterrichts!
Wenn Dawydow uns auch nicht sagt und beim gegenwärtigen Stand seiner Forschungen auch noch nicht sagen kann -, wie Biologieunterricht anders zu gestalten wäre, so gibt er doch eine Richtung an, in der Antwort auf diese Frage zu finden sein könnte.
Dawydow hat sich bisher vorwiegend mit der Umgestaltung des Unterstufenunterrichts befaßt. Ergebnisse dieser Untersuchungen wurden bereits in unseren neuen Lehrplänen verarbeitet, so bei der Gestaltung des Mathematikunterrichts in der Unterstufe. Darüber hinaus gaben und geben seine Untersuchungen Anstöße für ähnliche Untersuchungen in der DDR.
Wenn die Gedankengänge Dawydows weiter verdeutlicht werden sollen, so bietet sich ein Vergleich von Zitaten aus unserer neuen "Methodik Biologieunterricht" mit Auszügen aus dem Buch von Dawydow an. Die Kritik an diesem Verfahren ist voraus zusehen... Aber es geht dabei nicht um eine Auseinandersetzung mit der "Methodik Biologieunterricht", sondern nur um die weitere Klärung der Standpunkte Dawydows.
Im Abschnitt "Bilden von Begriffen" heißt es in der "Methodik Biologieunterricht": "Jede Wissenschaft, jedes System von Erkenntnissen besteht aus Begriffen unterschiedlichen Verallgemeinerungsgrades. In einem einheitlichen Erkenntnisprozeß werden sehr allgemeine Begriffe (z. B. Lebewesen) gleichzeitig mit weniger allgemeinen Begriffen (z. B. Tier - Wirbeltier - Lurch - Froschlurch) gebildet." Die Unterschiede zwischen den Begriffen würden demnach aus- schließlich im Grad der Verallgemeinerung liegen, nicht in der Art und Weise, wie die Verallgemeinerungen vollzogen werden. Auf   die Existenz von theoretischen Begriffen in der Biologie und deren spezifische Qualität wird nicht eingegangen.
Daß es sich tatsächlich um die Bildung empirischer Begriffe handelt, wird auch deutlich, wenn man den in der "Methodik Biologieunterricht" beschriebenen Weg ihrer' Bildung betrachtet. So heißt es: "Im Unterricht erweitern die Schüler ihr theoretisches Wissen ständig, indem neue Begriffe gebildet werden. Diese werden weder immer allgemeiner noch immer abstrakter. Beispielsweise erkennen die Schüler, daß die Plötze eine Wirbelsäule hat und daß die Wirbeltiere dieses Merkmal besitzen. Sie erfahren weiter, daß das ein Gruppierungsmerkmal aller Wirbeltiere ist. Dabei wird in den Klassen 1 bis 4 erworbenes Wissen systematisiert. Im Zusammenhang zwischen dem an der Plötze konkret erworbenen Wissen über die Wirbelsäule und dem Einordnen dieses neuen Wissens in vorhandenes wird auch der Zusammenhang zwischen den Verallgemeinerungen, mit denen der Schüler teilweise schon in der Vorschulerziehung, teilweise seit der Vermittlung in Klasse 1 bis 4 operiert, Lebewesen, Tiere (Wirbeltiere), Fische, theoretisch bewußter."
Zunächst ist zu bemerken, daß hier der Ausdruck "theoretisch" in einer ganz anderen Bedeutung benutzt wird als bei Dawydow (und in der modernen Erkenntnistheorie). Es wird auch deutlich, daß der Unterschied zwischen dem in der Vorschulerziehung bzw. in der 'Unterstufe und dem im Biologieunterricht erworbenen Wissen nur quantitativ ("bewußter") gesehen wird.
Dawydow schreibt: "Die in der Schule angeeigneten Definitionen und Begriffe beschreiben in verbaler Form die verschiedenen Seiten von Dingen und Erscheinungen, die unmittelbar wahrgenommen werden oder vorher von anderen Menschen beobachtet wurden.
Besonders deutlich geschieht das in den unteren Klassen; die Tendenz dazu wird jedoch auch später beibehalten . Man sollte meinen, das Kind müsse vom Schulbeginn an einen anderen Inhalt der Dinge und eine andere Form für dessen Ausdruck erwerben, als es das von zu Hause oder vom Kindergarten gewohnt ist. Aber gerade das sucht man zu vermeiden. Die pädagogische Psychologie und die Didaktik empfehlen den Lehrern, auf jede Weise die Erfahrungen zu nutzen, die die Kinder im Vorschulalter beim Umgang mit Gegenständen und Erscheinungen gesammelt haben, und sie als eine gute Grundlage für die Aneignung des Unterrichtsstoffes lediglich zu erweitern und zu präzisieren. Damit wird faktisch anerkannt; daß sowohl der Inhalt als auch die Methode des Kenntniserwerbs im Vorschulalter wie im speziellen Schulunterricht monotyp und gleichrangig sind."
Auf diese Weise erfolgt jedoch nicht die Bildung wissenschaftlich-theoretischer Begriffe, Begriffe einer anderen Qualität. Damit bleibt eine wesentliche Aufgabe des Unterrichts ungelöst; denn theoretische Kenntnisse sind nicht einfach Fortsetzung, Vertiefung und Erweiterung der Alltagserfahrung des Menschen, sondern. sie erfordern das Erarbeiten besonderer Mittel des Abstrahierens, des Analysierens und des Verallgemeinerns, durch die es möglich wird, die inneren Zusammenhänge der Dinge, ihr Wesen zu fixieren. "Die pädagogische Psychologie und die Didaktik", so schreibt Dawydow, "halten jedoch an der empirischen Theorie fest und ignorieren bei der Erarbeitung des Unterrichtsgegenstandes faktisch diese Besonderheiten der wissenschaftlichen Kenntnisse. Die These, die Schüler müßten sich das Wissen über die Dinge unmittelbar aneignen, behindert die Suche nach Wegen zur Realisierung des Prinzips der Wissenschaftlichkeit der Schulbildung.
Gegenstand der Wissenschaften in ihrer gegenwärtigen Form (und nur davon kann die Rede sein, und nur dabei entstehen neue Probleme für die Schulbildung) sind nicht die Dinge selbst und die unmittelbaren Erscheinungsformen.“
Gerade diese Äußerung Dawydows zeigt das Problem, um das es geht: Welche Form haben die biologischen Wissenschaften heute?
Hier ist nicht der Ort, diese Frage zu beantworten. Es kann jedoch festgestellt werden, daß die fundamentalen Begriffe der Biologie zunehmend theoretische Gestalt annehmen, wobei Begriffe aus der Physik und Chemie eine bedeutsame Rolle spielen (z. B. "biologische Oxydation"). Die theoretischen Begriffe der Biologie müssen im Unterricht auf andere Weise vermittelt werden als die empirischen Begriffe der - Biologie (z. B. "Wirbelsäule", "Plötze"). In der "Methodik Biologieunterricht" werden die biologischen Begriffe und ihre Vermittlung im Unterricht monotyp als empirische Begriffe dargestellt; die nachfolgend zitierte Bestimmung biologischer Begriffe trifft auf empirische, nicht aber auf theoretische Begriffe zu:
"Biologische Begriffe spiegeln das Gemeinsame von mindestens zwei, meist aber von einer größeren Anzahl konkreter Erscheinungen wider. Bei der Begriffsbildung ist deshalb das Vergleichen von Erscheinungen eine wesentliche Tätigkeit." Nicht immer können zum Vergleichen im Unterricht Naturobjekte in ausreichender Vielfalt bereitgestellt werden. Der Lehrer setzt deshalb oft andere Unterrichtsmittel, z. B. Abbildungen oder Modelle, zusätzlich zum Vergleichen ein. Auch dabei können nicht immer alle für die Verallgemeinerung erforderlichen Merkmale selbständig von den Schülern erkannt werden. Einzelne Merkmale oder andere Teilerkenntnisse, welche von den Schülern nicht erarbeitet werden können, muß der Lehrer vermitteln."
Dawydow dagegen meint: "Da das Allgemeine als das Ähnliche, das Gleichartige in vielen Gegenständen betrachtet wird, genügt für die Differenzierung von ähnlichen Eigenschaften Vergleich, der die Aufgabe hat, das Material beliebiger Begriffe unabhängig von seinem konkreten Inhalt und seinen konkreten Besonderheiten zu verallgemeinern. Der Bildung des Begriffs einer Zahl liegt ein Vergleich zugrunde, der biologische Begriff 'Leben' wird durch den Vergleich gebildet, der Begriff von den Entwicklungsetappen. des Staates stützt sich gleichfalls auf den Vergleich. Weil der Vergleich auf alle Gegenstände angewendet wird, die einander in irgend etwas, ähneln entspricht sein formaler Charakter voll und 'ganz dem formalen Charakter des herausgelösten gemeinsamen Merkmals.
Die traditionelle pädagogische Psychologie schreibt die entscheidende Rolle im Verallgemeinerungsprozeß jener Art Vergleich zu, die im Alltag üblich ist; damit verhindert sie die Untersuchung der konkreten inhaltsbezogenen Handlungen des Kindes, mit- deren Hilfe es die ebenso konkrete, innere Art der Wechselwirkung verschiedener Eigenschaften und Seiten eines Gegenstands, die seine innere Einheit, seine Existenz als eines spezifischen ganzheitlichen Gegenstands bestimmt, zu erkennen, zu differenzieren und ,zu fixieren vermag. Diese Art der Wechselwirkung, der innere Zusammenhang der Momente eines Gegenstandes kann durch keinerlei Vergleich erfaßt werden, da der Vergleich nur irgendein formales und mit anderen Gegenständen gemeinsames Merkmal herauszulösen vermag, jedoch nicht die gemeinsame Grundlage der Spezifik eines gegebenen Gegenstandes."
In diesen Ausführungen wird deutlich, daß der durch Vergleiche dieser Art gewonnene Begriffsinhalt ausschließlich in den äußerlich wahrnehmbaren, formalen Gemeinsamkeiten besteht. Die Begriffsbildung besteht dann, der Wahrnehmung dieser Gemeinsamkeiten einen verbalen Ausdruck zu verleihen.
Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei gesagt, daß es Dawydow nicht darum geht, empirische Begriffe und die ihnen entsprechenden Verfahren ihrer Vermittlung aus dem Unterricht der allgemeinbildenden Schule zu "verbannen". Es geht ihm vielmehr um den Nachweis, daß theoretische Begriffe, die das Wesen der modernen Wissenschaft ausmachen, nicht mit dem Verfahren der Bildung' empirischer Begriffe gewonnen werden können und daß eben diese Verfahren den essentiellen Inhalt der traditionellen Didaktik ausmachen. Die moderne Didaktik muß um Verfahren der Vermittlung theoretischer Begriffe ergänzt werden.
Wie sieht nun Dawydow die Lösung des Problems? Der Hauptweg besteht nach seiner, Meinung darin, den Kindern schon sehr früh - vom Beginn des Unterrichts an - theoretische Begriffe zu vermitteln und sie nicht künstlich auf dem Stand des empirischen Denkens zu halten. Er schreibt: "Von Anfang an wird den Schülern der ersten Klassen der wesentliche Unterschied demonstriert, der zwischen der Widerspiegelung der Objekte in Form von Begriffen (gemeint - sind theoretische Begriffe - G. L.) und der Widerspiegelung durch Beschreibung besteht, wie sie beim direkten lebendigen Umgang und in den Alltagsbeobachtungen angewendet wird."
Für den Biologielehrer ist primär nicht der Zeitpunkt des Beginns eines solchen Unterrichts von Bedeutung (unserem gegenwärtigen Lehrplan entsprechend müßte das spätestens zu Beginn der Klasse 8 erfolgen), von Bedeutung ist die Tatsache, daß die Bildung von Begriffen dieser Art mit einer anderen "Technologie" des Unterrichts erfolgen muß und daß in deren Ausarbeitung eine noch zu lösende Aufgabe der Didaktik und Methodik besteht. Unabhängig also davon, zu welchem Zeitpunkt der Entwicklung des Kindes die Vermittlung theoretischen Wissens beginnt, ist für die Didaktik - und für den Biologielehrer – bedeutsam, die spezifische Qualität dieses theoretischen Wissens zu erkennen und Mittel und Verfahren zu kennen, die es ihm ermöglichen, alle Kinder zum Erfassen theoretischer Sachverhalte zu führen. Dieser neuen Aufgabe müssen sich die Didaktik und die Methodik stellen.
Dawydow  charakterisiert diese Aufgabe so: "Die Aufgabe der allernächsten Zukunft besteht darin, durch komplexe logische, psychologische, didaktische und methodische Untersuchungen konkrete Verfahren zur Erarbeitung von Unterrichtsmaterialien auf der Grundlage inhaltlicher Verallgemeinerungen des Materials und theoretischer Begriffe zu erarbeiten. Diese Untersuchungen müssen in einer untrennbaren Einheit von Experimentalunterricht und Erforschung der Gesetzmäßigkeiten - der Denkentwicklung der Schüler verlaufen.
Der Übergang zu diesen Untersuchungen leitet eine neue Entwicklungsetappe in der Kinderpsychologie und der pädagogischen Psychologie ein. Bisher waren sie vorwiegend beschreibende Wissenschaften, die die empirischen Besonderheiten des einen oder anderen bereits historischen Unterrichts- Systems und der psychischen Entwicklung der Kinder konstatierten. Diese Erfahrungen sind von großem gnoseologischen Wert, sie enthüllen jedoch nicht die wirklichen Mechanismen der Wissensaneignung und der geistigen Entwicklung.
Abschließend sei vermerkt, daß die hier diskutierten Fragen keineswegs primär den Biologieunterricht betreffen. Aber gute Gründe sprechen dafür, daß auch wir diese Probleme aufgreifen. Dafür spricht nicht zuletzt die aktuelle Situation der Biowissenschaften. Deshalb sollten auch Biowissenschaftler an der weiteren Diskussion teilnehmen und mit historischen wie aktuellen Informationen dazu beitragen, die Frage nach den Problemen, der unterschiedlichen (empirischen - theoretischen) Begriffe und Denkweisen in den Biowissenschaften einer weiteren Klärung zuzuführen.
 

 

 

 











 

 

 

 

 

Publiziert in: Biologie in der Schule,11/1978 , Seite 459 bis 465

Literatur:
/1/ (Dawydow, W.: Arten der Verallgemeinerung im Unterricht. (Übersetzung aus dem Russischen) Reihe "Beiträge zur Pädagogik", Bd. 8. Berlin: Volk und Wissen Volkseigener Verlag 1977
/2/ Dieser Charakteristik wurden Ausführungen Smirnows zugrunde gelegt. 'Vgl. Smirnow,; V.A.: Wissensebenen und Etappen des Erkenntnisprozesses. In: Studien zur Logik der wissenschaftlichen Erkenntnis, Berlin: Akademie-Verlag 1967, S.45ff.
/3/ Vergleiche zum Beispiel: Ohl, W.: Aneignungsprozeß, Wissenserwerb, Fähigkeitsentwicklung. Berlin: Volk und Wissen Volkseigener Verlag 1973
/4/ Methodik Biologieunterricht. Berlin- Volk und Wissen Volkseigener Verlag 1976

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© Dr. G. Litsche 2006
Letzte Bearbeitung: 23.03.2010