Beiträge zur Erkenntnistheorie

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Zur Terminologie des Systembegriffs

Mit dem Begriff des offenen thermodynamischen Systems nahm Bertalanffy die Hürde, die dem Verständnis des Lebens durch den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik gesetzt war. Der Begriff des offenen thermodynamischen Systems ist seither zu einem bedeutsamen Erklärungsprinzip des Lebendigen geworden. Es wird jedoch im Folgenden gezeigt werden, dass dieser systemtheoretische Erklärungsansatz hierfür ungeeignet ist. Leben kann nicht systemtheoretisch verstanden werden.

Der Bedeutung gebende Terminus in der systemtheoretischen Terminologie ist der Terminus „System“. Unter „System“ wird allgemein ein Gebilde verstanden, das aus Teilen besteht, die miteinander in Beziehung stehen. Dieser Systembegriff ist aber gar nicht erforderlich, um die → Sätze der Thermodynamik zu formulieren. Sie sind ohne Informationsverlust formulierbar, wenn sie einem physikalischen Körper ohne Gliederung und Struktur zugeschrieben werden, so wie das vor der Verbreitung des Terminus „System“ weitgehend der Fall war.. Der Terminus „System“ kann in der klassischen Thermodynamik also →Ockhams Rasiermesser zum Opfer fallen.
Der Systembegriff wurde erst erforderlich, als Bertalanffy die Grenzen des Körpers überschritt und den Begriff des Fließgleichgewichts entwickelte, der den Begriff „offenes thermodynamisches System“ erforderte. Dadurch erhielten die Köper nun logisch einsichtig die komplementäre Bezeichnung „abgeschlossenes (isoliertes) thermodynamisches System“. Damit aber werden dem homogenen Körper nun Merkmale zugeschrieben, die im Begriffssystem der klassischen Thermodynamik gar nicht erforderlich sind. Ob ein Körper aus Teilen besteht, ist für seine thermodynamischen Eigenschaften gleichgültig, von ihnen wird abstrahiert.

Thermodynamisches Ungleichgewicht

Der Gültigkeitsbereich der Sätze der Thermodynamik sind thermodynamische Gleichgewichtszustände. Der zweite Hauptsatz besagt, dass thermodynamische Ungleichgewichtszustände stets und irreversibel in den Gleichgewichtszustand übergehen.
Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt also, dass thermodynamische Prozesse stets in Richtung des thermodynamischen Potenzials, „bergab“ verlaufen. Der Start dieses Prozesses erfordert weiter keine äußere Ursache. Er erfolgt „spontan“, „freiwillig“.
Leben vollzieht sich aber in der entgegengesetzten Richtung, „bergauf“. Leben folgt also nicht den Sätzen der Thermodynamik, es ist im Paradigma der Thermodynamik nicht beschreibbar.
Lebende Körper – und darin besteht Bertalanffys bahnbrechende Erkenntnis – befinden sich nicht im Zustand des thermodynamischen Gleichgewichts, auf das die Sätze der Thermodynamik zuträfen,  sondern in einem thermodynamischen Ungleichgewicht. Für diesen Zustand aber treffen die Sätze der Thermodynamik aber per definitionem nicht zu. Das Leben – so zeigt Bertalanffy - befindet sich also nicht im Widerspruch zur klassischen Thermodynamik, es wird von dieser nur nicht beschrieben.
Bertalanffy ging dieses Problem an, indem er sich der Physik des thermodynamischen Ungleichgewichts zuwandte. In der klassischen Thermodynamik ist das Ungleichgewicht kein Zustand, sondern nur ein zeitlich begrenzter Prozess, dessen berechenbares Ergebnis das Gleichgewicht ist und dessen Parameter durch die Parameter der Startbedingungen bestimmt werden. Dieser zeitlich begrenzte Prozess hin zum Gleichgewicht und mit sich ständig ändernden Parametern wird in lebenden Körpern nun zu einem statischen Zustand mit konstanten Prozessparametern, dem Fließgleichgewicht.
Im Grunde ist der Terminus „Fließgleichgewicht“ irreführend, denn er legt die Vorstellung nahe, es handle sich um einen Gleichgewichtszustand. Aber auch die Bezeichnung „Prozess“ erweist sich als ungeeignet, denn ein Prozess ist durch sich ständig ändernde Prozessparameter gekennzeichnet. Ein Prozess beginnt und endet. Das Fließgleichgewicht ist aber als Prozess definiert, dessen Parameter sich nicht ändern. Das Fließgleichgewicht hat nicht Anfang und Ende, sondern findet dauerhaft statt.
Das Gebilde, in dem sich ein Fließgleichgewicht, ein Fluss, einstellen soll, kann nicht ausschließlich aus dem als homogen anzusehenden Fluss bestehen. Es muss mindestens eine „Quelle“ und eine „Senke“ haben (Abbildung 1 ). Ein dauerhaftes Fließgleichgewicht erfordert Zufluss und Abfluss als weitere Komponenten. Diese Komponenten sind logisch erforderlich, um das Fließgleichgewicht mit den Gesetzen der Physik und Thermodynamik verträglich zu machen. Ohne diese Komponenten wäre das Fließgleichgewicht physikalisch nicht denkbar. Das Fließgleichgewicht ist kein Zustand eines homogenen Körpers, es muss ein strukturiertes Gebilde, ein System sein
Mit der Ausarbeitung des Begriffs des Fließgleichgewichts wurde also ein Terminus erforderlich, mit dem Entitäten bezeichnet werden, die aus miteinander zusammenhängenden Teilen, den Komponenten bestehen. Zu diesem Terminus wurde das Wort „System“.

Das Wort „System“() wurde bereits früher in den Wissenschaften lange Zeit wenn auch nicht nicht als terminus technicus benutzt. So wie heute unsere Sprache gern mit Wörtern aus dem Englischen schmücken, wurde das Wort „System“ ursprünglich von Wissenschaftlern in einer dem Griechischen entlehnten umgangssprachlichen Bedeutung benutzt, und als verkürzende Bezeichnung einer „Zusammenstellung von Elementen mit gewissen Beziehungen zueinander“ verstanden. Es hatte keine darüber hinaus gehende spezifische Bedeutung. Mit dem Begriff des Fließgleichgewichts  erhielt er nun eine darüber hinaus gehende Bedeutung als Ausdruck eines spezifischen Begriffs der Thermodynamik.

Die Erweiterung des Systembegriffs

Wenn es bei dieser Bedeutung geblieben wäre, hätte der Systembegriff seinen Platz im methodischen Paradigma des analytisch-synthetischen Reduktionismus finden können.
In dem Bestreben, mit dem Systembegriff das Leben zu erklären, wurde der Systembegriff zum Element der den Reduktionismus bekämpfenden Denkweise der Ganzheitskonzeption (Organizismus, Holismus), die sich durch die antireduktionistische These charakterisieren lässt, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.
Davon ausgehend wurde der Systembegriff zu einem wissenschaftlichen Terminus, der es ermöglichte, Fragen nach der Organisation und Ordnung solcher notwendig aus Teilen bestehenden komplexen Ganzheiten zu formulieren und zu lösen. (Vgl. Judin, S.145ff.!→) Nun erwies sich der Terminus „System“ über seine umgangssprachliche Bedeutung hinaus auch als ein begriffliches und terminologisches Instrument, diese ganzheitliche Betrachtungsweise auszudrücken. Indem ein Gegenstand als „System“ bezeichnet wird, wird ihm a priori, zugeschriebendass dieser aus notwendigen Teilen besteht, die in bestimmter geordneter Weise als Ganzes zusammenwirken, wodurch die spezifischen Eigenschaften des Systems (des Ganzen) erklärbar würden. Der Systembegriff wurde zum →Erklärungsprinzip.
Seither nahm die Verwendung des Terminus „System“ nahezu inflationäre Züge an. Kaum eine Wissenschaft, die auf sich hält, meint ohne diesen Terminus auskommen zu können. Zu oft erfolgt die Verwendung des Wortes „System“ aber ohne präzise Definition auf schwammige metaphorische Weise und verkommt so zu einer reinen Diskursregel. Bei genauer Prüfung könnte es vielfach durch Ockhams Rasiermesser ohne Verlust für die Sache entfernt werden.

Die Verbindung des Systembegriffs mit der Konzeption der Ganzheitlichkeit machte den Systembegriff nun unverträglich mit dem Reduktionismus. Auf reduktionistische Weise kann nicht erklärt werden, worin das „Mehr“ bestehen soll, welches das Ganze gegenüber seinen Teilen auszeichnet und das per definitionem  nicht aus den Teilen abzuleiten ist. Die Worte „Emergenz“, „Fulguration“ () u.a. sind Ausdruck der Untauglichkeit aller Versuche, den Reduktionismus in den Systembegriff zu retten.
Eine Lösung dieses Dilemmas liegt in einem weiteren Merkmal, das dem Systembegriff in seiner weiteren Entwicklung zugeschrieben wurde. Dieses Merkmal ist die „Funktionalität“ der Systeme. Funktionalität besteht darin, dass sowohl den einzelnen Teilen des Systems als auch dem System als Ganzem eine „Funktion zugeschrieben wird. Die Teile des Systems werden so zu dessen „funktionellen Komponenten“. Mit der Funktionalität wurde aber nun der Mensch in den Systembegriff einbezogen.

Die Funktion ist eine zweistellige Relation. Einer Entität kommt eine Funktion nicht unmittelbar zu, sondern nur in Bezug auf eine andere. Funktion ist immer Funktion für eine andere Entität. Als diese zweite Entität kann zunächst nur der Mensch gedacht werden, der dem System seine Funktion zuordnet. Die Funktion des Systems ist der Beitrag, den dieses zur Befriedigung eines menschlichen Bedürfnisses leistet. Dazu wird das natürliche System genutzt oder das künstliche System hergestellt. Durch das Zuweisen der Funktion erhalten Systeme Sinn und Bedeutung. () Ohne die praktische oder geistige Tätigkeit des Menschen hat kein System einen Sinn oder eine Bedeutung. In einer reduktionistischen Erklärung hat Funktionalität keinen Platz, alles wird auf die Teile und deren Zusammenwirken zurück geführt.
Die Funktion ist auch das Kriterium, das ein System erst zur Ganzheit macht. Erst die Funktion macht es möglich, die Funktion der einzelnen Teile zu bestimmen und sie als funktionelle Komponenten eines Ganzen zu definieren.  

Es ist unmittelbar einsichtig, dass die Funktion eines Systems nicht aus dem System selbst oder seinen Komponenten hervorgeht. Sie wird ihm vielmehr von außen, vom Menschen zugewiesen. Die Funktion emergiert eben nicht.
Ohne materielle oder ideelle Nutzung durch den Menschen kann eine Entität nicht als System bezeichnet werden. Oft besteht der ideelle Nutzen (die ideelle Funktion) einer Entität gerade darin, sie als System verstehen zu können. Eine Entität ohne Funktion, ohne Sinn und Bedeutung ist kein System im ganzheitlichen Sinn. Natürlich können unter geeigneten Bedingungen auch ohne den Menschen Entitäten entstehen, die aus zusammenhängenden Teilen bestehen. Ohne menschliche Nutzung können sie nicht „Systeme“ genannt werden, denn sie haben keine Funktion und können deshalb auch nicht als Ganzheiten identifiziert werden.

Konstellationen

Diese Entwicklung des Systembegriffs wurde aber nicht von allen Autoren gleichermaßen vollzogen. Die ursprüngliche reduktionistische Fassung des Systembegriffs blieb neben seiner ganzheitlichen Fassung erhalten. Dadurch verlor der Gebrauch des Systembegriffs an logischer und terminologischer Konsistenz. Zur Erhaltung der Konsistenz des entwickelten Systembegriffs wird also ein Terminus erforderlich, der eben solche Gebilde bezeichnet, die zwar aus zusammenhängenden Teilen bestehen aber keine Funktion haben. Zur Bezeichnung von Gebilden dieser Art bietet sich der Terminus „Konstellation“ () an. Eine Konstellation ist ein natürliches Gebilde, das aus miteinander in Zusammenhang stehenden Teilen stehenden Teilen besteht. „Konstellation“ bezeichnet also das, was umgangssprachlich oft auch „System“ genannt wird./1/ Der Begriff der Konstellation bietet die Möglichkeit, die logische Inkonsistenz des erweiterten Systembegriffs zu überwinden.

Die Konstellation ist im Unterschied zum System reduktionistisch erklärbar. Sie ist vollständig beschrieben, wenn alle ihre Teile und deren Zusammenwirken beschrieben sind. Es gibt nichts, was nicht auf ihre Teile zurückgeführt werden könnte.
In dieser Terminologie könnte der Terminus „System“ nicht zur Bezeichnung natürlicher Gebilde benutzt werden. Termini wie „Planetensystem“ oder „Klimasystem“ wären folglich semantisch sinnlos, denn die natürliche Konstellation der Planeten oder der Klimafaktoren haben keine Funktion.
Bei der Betrachtung der Beziehungen des Menschen zu natürlichen Konstellationen müssen aber zwei Ebenen unterschieden werden, die praktische und die geistige Ebene. Wenn der Mensch die Planeten auch nicht zur unmittelbaren Befriedigung materieller Bedürfnisse nutzt, sie erzeugt er doch geistige Bilder solcher Konstellationen, die der Befriedigung unterschiedlichster Bedürfnisse dienen. Wenn auch die natürliche Konstellation der Planeten oder der Klimafaktoren keine Funktion haben, so haben doch ihre gedanklichen Bilder vielfältige Funktionen.

Theoretische Systeme

Wenn also mit Blick auf die Planeten gesagt wird, sie seien kein System, so ist das in dem Sinne zu verstehen, den René Magritte in seinem Bild „Dies ist keine Pfeife“ () zum Ausdruck bringt.
In diesem Sinne sind auch Termini zu verstehen wie "Sonnensystem" oder "klimatisches System". Das sind theoretische Konstruktionen, die natürliche Konstellationen zu dem Zweck abbilden, das Zusammenwirken der Teile dieser Konstellation zu verstehen.
Wenn beispielsweise von unserem Planetensystem die Rede ist, muss man sagen, welches Bild der Planeten da gemeint ist, das ptolemäische, das kopernikanische oder das keplersche, das der allgemeinen Relativitätstheorie oder das der Stringtheorie? Immer, wenn wir von einem „Planetensystem“ reden, reden wir von einem von uns konstruierten gedanklichen Bild eines Teiles der Welt. Die zwischen den Elementen des jeweiligen Bildes bestehenden Beziehungen sind gedankliche Beziehungen, die Menschen in ihrer Erkenntnistätigkeit hergestellt haben und die ihr Erkenntnisbedürfnis befriedigen. Die Funktionalität der Elemente wird aus der Funktion des Bildes abgeleitet, die dieses im System unserer Erkenntnis erfüllt

Man könnte nun einwenden, dass der Terminus „Konstellation“ überflüssig ist, weil er auch eine gedankliches Bild mit einer Erkenntnisfunktion ausdrückt, nämlich das Bild eines aus zusammenhängenden Teilen bestehenden natürlichen Gebildes ohne Funktion. Eben darin besteht seine Funktion, die ihn ebenfalls zum System mache. Dieser Einwand ist aber nur eine Form des Lügner-Paradoxons (), das auf der Gleichsetzung von Objekt- und Metaebene beruht und ist darum unzutreffend.
Künstliche Konstellationen, Artefakte, sind per definitionem Systeme. Das eben Gesagte macht aber auch deutlich, dass der Terminus „Konstellation“ nicht nur zur Bezeichnung natürlicher Gebilde dienen muss, sondern auch Artefakte bezeichnen kann. Das geschieht dann, wenn man eine weitere Metaebene einrichtet auf der von der Funktion, dem Zweck des Artefakts abstrahieren will.

Lebewesen sind keine Systeme

„Konstellation“ und „System“ bezeichnen Erklärungsprinzipien, mit denen beliebige Entitäten beschrieben und erklärt werden können. Jede Entität kann sowohl als Konstellation als auch als System betrachtet werden. Je nach dem verwendeten Erklärungsprinzip werden andere Eigenschaften dieser Entität abgebildet. Dieser Sachverhalt verbirgt sich hinter der Floskel „ist“. Jede Entität ist also sowohl Konstellation als auch System, und zwar „in Wirklichkeit“ ().

Die Wahl des Erklärungsprinzips wird davon bestimmt, welche Funktion die beabsichtigte Erkenntnis erfüllen soll. Sie bestimmt, was die dann gewonnene Erkenntnis leisten kann. Die Wahl des Erklärungsprinzips „System“ hat nolens volens zur Folge, dass der betrachteten Entität eine Funktion zugeschrieben wird. Es muss angegeben werden, wozu sie da ist, wem sie nützt.
Wenn nun Lebewesen als Systeme betrachtet werden, dann muss auch für sie angegeben werden, welche Funktion sie haben, wem sie nützen. Damit gerate ich aber in einen unlösbaren Widerspruch zu der Auffassung, die Lebewesen als Subjekte betrachtet. Subjekte sind selbsterhaltende und selbstbestimmte, autonome Wesen, die nicht für uns da sind, die keine Funktion zu erfüllen haben. Die Pflanzen wachsen nicht, um uns zu ernähren, auch wenn sie das tun. Sie wachsen auch nicht, um Tiere zu ernähren, auch wenn sie das tun. Sie wachsen schließlich auch nicht, um das Leben auf der Erde zu ermöglichen, auch wenn sie das tun.

Auch der Fluss fließt nicht, um unser Kraftwerk mit Energie zu versorgen, auch wenn er das tut. Aber wenn wir den Fluss als energetisches System nutzen, zerstören wir ihn nicht notwendig. Er bleibt weiter als Fluss bestehen und wir können ihn als Fluss begreifen. Indem wir ihn nutzen, fügen wir ihm nur eine weitere Bestimmung hinzu, seine Bestimmung als System.
Wenn wir Lebewesen nutzen, zerstören wir ihr Dasein als Subjekte. Wir nehmen ihnen ihre Selbstbestimmtheit, ihre Autonomie. Wenn wir das Pferd reiten, nehmen wir ihm seine Selbstbestimmtheit, wenn wir eine Pflanze essen, töten wir sie.
Unabhängig davon, dass die Nutzung von Pflanzen und Tieren notwendiger Teil menschlichen Lebens ist, ist die Betrachtung des Lebens als die Seinsweise von Subjekten notwendige Voraussetzung dafür, sie in ihrer originären Natur zu verstehen.
Ich habe lange erfolglos versucht, Lebewesen als lebende Systeme zu verstehen. Als ich sie aber als System verstanden hatte, lebten sie nicht mehr. Lebewesen sind nicht eine besondere Art von Systemen, sondern eine besondere Art von Konstellationen, sie sind eben Subjekte und Subjekte sind zwar Konstellationen, aber keine Systeme.

Teil und Ganzes

Die Selbsterhaltung ist keine Leistung irgendeiner Komponente, eines Teils der Konstellation, sondern eine Leistung eben dieser Konstellation, der Konstellation als Ganzem. Die Frage ist nicht, wie das Ganze aus den Teilen entsteht, sondern wie das Ganze zu seinen Teilen kommt..
Das erkenntnistheoretische Problem, das in dem Satz steckt, dass die Eigenschaften eines Ganzen nicht aus den Teilen abgeleitet werden kann, ist gelöst, wenn man erkennt, dass der gedankliche Übergang von Teilen zum Ganzen ein Wechsel des Erklärungsprinzips, eine Wechsel des Paradigmas ist. Was erklärt und was wird erklärt. Die Frage ist also, wie kann ein Erklärungsprinzip aus einem anderen, ein Paradigma aus dem anderen abgeleitet werden. Nicht das Ganze muss erklärt werden, sondern die Teile. Die Frage ist nicht, wie die Teile zum Ganzen werden, sondern wie das Ganze zu seinen Teilen kommt. Diese Funktion des Ganzen im Begriffssystem nennt Judin „Grenzabstraktion“ (Judin, 2009, S, 298)
Es ist hier nicht der Ort, dieses Problem prinzipiell zu lösen. Ich habe hier nur verhindert, dass ich in die Not geriet, das Ganze aus seinen Teilen erklären zu müssen, indem ich von Anfang an ein ganzheitliches Erklärungsprinzip gewählt habe. So musste ich an keiner Stelle das Ganze aus den Teilen erklären, sondern habe immer die Teile als Teile eines Ganzen erklärt.
Die grundsätzliche physikalische Lösung dieses Problems hat Prigogine entwickelt indem er zeigt, dass in Konstellationen fern vom Gleichgewicht autogen Strukturen entstehen können. Diese dissipativen Strukturen sind die aus dem Ganzen entstehenden Teile, die in einer Konstellation eben als Teile dieser Struktur entstehen.

 

Inhalt:
Thermodynamisches Ungleichgewicht
Die Erweiterung des Systembegriffs
Konstellationen
Theoretische Systeme
Lebewesen sind keine Systeme
Teil und Ganzes

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Schrödinger
hat in seiner Schrift „Was ist Leben?“ das Problem der Verträglichkeit von Biologie und Physik in wohl heute noch gültiger Weise erörtert. Bertalanffy hat mit dem Begriff des Fließgleichgewichts und des offenen thermodynamischen Systems Wege zur Lösung dieses Problems eröffnet.

 

Bertalanffy
benutzte als
Modell für den thermodynamischen einen hydrodynamischen Prozess. Ein hydrodynamisches Fließgleichgewicht ist beispielsweise ein Fluss mit konstanter Fließgeschwindigkeit.

 

 

 


Abbildung 1: Fluss (On Mouseover: im dauerhaften Fließgleichgewicht, Q Quelle, S Senke, G Gefälle, K Kanal, Zufluss, Abfluss)

 

Prigogine
hat mit dem Begriff der dissipativen Struktur gezeigt, dass in Zuständen entfernt vom Gleichgewicht, in Fließgleichgewichten, solche Strukturen spontan, von selbst entstehen. In einem hydrodynamischen Fluss sind das beispielsweise die Strudel.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Angemerkt:
Der Fischreichtum eines Flusses ist keine funktionelle Komponente des Flusses als Transportsystem.

Systeme können auch auf natürlichem Wege entstehen. Ein Fluss kann die unterschiedlichsten menschlichen Bedürfnisse befriedigen und erhält so die verschiedensten Funktionen. Er kann als Nahrungsquelle (Fischfang), der Bewässerung, der Energiegewinnung oder dem Transport dienen. Diese Funktionen qualifizieren ihn zu unterschiedlichen Systemen: Er ist Ernährungssystem, Bewässerungssystem, Energiesystem, Transportsystem oder funktionelle Komponente entsprechender Systeme.

 

Die Versuche, dieses Problem über den Begriff des Systems 2. Ordnung“ (>>) zu lösen, haben sich letztlich als untauglich erwiesen. Indem man den Beobachter als Teil des Systems auffasst, das zu beschreiben ist, wird ein unendlicher Regress konstruiert, den es erfordert den Beobachter dieses Beobachters usw.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

René Magritte
Der französische Maler brachte diese beiden Ebenen in dem berühmten Gemälde „Dies ist keine Pfeife“ auf den Punkt. Abgebildet ist eine Pfeife, darunter ist der Schriftzug „Ceci n'est pas une pipe.“ (französisch für „Dies ist keine Pfeife.“) zu lesen. Dieses Gemälde () macht darauf aufmerksam, dass man es hier mit einem Bild zu tun hat, nicht mit einer Pfeife, die man stopfen oder rauchen könnte.

Ergänzt:
 
Vor den kausalistisch-technologischen Bildern und auch neben diesen gab und gibt es die mythischen und religiösen Abbilder von bedeutsamen Systemen. In diesen bilden Mythen und religiöse Konstrukte die sinngebenden Komponenten und die Systeme werden durch mythische und religiöse Handlungen gesteuert (Abbildung 2). Wir sollten nicht überheblich lächeln, immerhin haben Gesellschaften ihr Leben auf dieser Grundlage über Jahrtausende erfolgreich organisiert. Und ich bin sicher, mancher Leser dieser Zeilen hat schon einmal einem Gewässer eine Münze "geopfert" in der Hoffnung, seine Zukunft günstig zu beeinflussen.

Abbildung 2: Scheibenfibel mit Darstellung des Donau-Flussgottes Danuvius, 150-250 n. Chr (Römermuseum, Wien, aus Wikipedia)

 

 

 

 

 

 

Albert Schweitzer
hat mit seiner Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben den ethischen Aspekt dieser theoretischen Position entwickelt. 

 

 

Weiterführende Links:
Geschichte des Systemdenkens und des Systembegriffs

Weiterführende Literatur:
Bertalanffy, Ludwig von, Beier, Walter; Lauerbach, Robert: (1977): Biophysik des Fließgleichgewichts, Akademie-Verlag, Berlin,
Bertalanffy, Ludwig von (1951): Theoretische Biologie * Bd. 2, A. Franke AG Verlag, Bern,
Judin, Erik Grigor´evic (2009): Systemansatz und Tätigkeitsprinzip * Methodologische Probleme der modernen Wissenschaft, Lehmanns Media-LOB, Berlin,
Schrödinger, Erwin (2001): Was ist Leben ? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet, Piper & Co.Verlag, München, Zürich,
Schweitzer, Albert (1963): Die Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben, Union Verlag, Berlin

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© Dr. G. Litsche 2010
Letzte Bearbeitung: 19.08.2012